John C.G. Röhl: Wilhelm II. Der Weg in den Abgrund 1900-1941, München: C.H.Beck 2008, 1617 S., 67 Abb., ISBN 978-3-406-57779-6, EUR 49,90
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Wie kaum ein anderer Historiker hat sich John Röhl mit dem letzten deutschen Kaiser Wilhelm II. beschäftigt. Rechnet man alle Werke hinzu, die im Umfeld seiner nunmehr dreibändigen Biographie des Kaisers entstandenen sind, dann dürften - einschließlich der dreibändigen Eulenburg-Edition - mehr als zehntausend (!) Seiten herauskommen. Mit unermüdlichem Fleiß, Spürsinn für neue Quellen und großem Engagement hat Röhl dessen Leben im wahrsten Sinne des Wortes seziert, wenn man allein an die ausführlichen Beschreibungen der Krankheiten Wilhelms II. oder der Schwierigkeiten seiner Geburt denkt. Mit seinen apodiktischen Urteilen über das "Persönliche Regiment" oder mit seinen teilweise sehr langen Zitaten hat Röhl es dem Leser allerdings oft nicht einfach gemacht. Hinzu kamen zahlreiche ungelöste Widersprüche, standen doch die häufig breit geschilderten Reden, Aussprüche und Briefe Wilhelms II. oft in einem krassen Gegensatz zu dessen Handeln. Gleichwohl, das Werk, das Röhl hier in insgesamt drei Bänden vorgelegt hat, zeugt von einer ungeheuren Schaffenskraft, einem enorm ausgeprägten Spürsinn für das Auffinden neuer Quellen und auch - bei allem, was strittig sein mag - von einer großen Urteilskraft.
Worum geht es nun in diesem letzten Band? Das Jahr 1901 ist für Röhl ein einschneidendes Jahr im Leben Wilhelms II., sterben in diesem doch sowohl seine geliebte Großmutter, Queen Victoria, als auch seine Mutter, deren Tochter Victoria, besser bekannt als Kaiserin Friedrich, zu der er zeitlebens ein gespaltenes Verhältnis hatte. Entscheidend aus Röhls Sicht ist nicht die Theatralik, mit der Wilhelm II. in der ihm eigenen Art diese Ereignisse "durchlebte", sondern die Tatsache, dass damit das deutsch-englische Band dauerhaft "zerrissen" war (48). Diese Deutung mit all ihren Folgerungen durchzieht dann auch den Rest der gesamten Studie. Das Jahr 1900 ist, und darin wird man Röhl uneingeschränkt Recht geben können, das endgültige Wendejahr in der deutschen Außenpolitik. Im Sommer 1900 war das Zweite Flottengesetz verabschiedet worden. Dessen "Endziel war, das Deutsche Reich anstelle von England als vorrangig europäische Weltmacht zu etablieren" (ebd.).
Der größte Teil der folgenden 37 Kapitel beschäftigt sich mit diesem Versuch das Geplante umzusetzen. Angefangen bei Wilhelms Rolle während des Burenkrieges und des Boxer-Aufstandes über die - vermeintliche - Rolle Eduards VII. bei der Einkreisung Deutschlands bis hin zu ausführlichen Reflexionen über "Das ungelöste Problem der englischen Neutralität" beleuchtet Röhl diese Frage aus allen nur möglichen Blickwinkeln. Es ist erschütternd, über das ohnehin bekannte Ausmaß hinaus zu lesen, wie überzeugt Wilhelm II. von seiner Rolle und der seines Reiches war und wie sehr er glaubte, diese notfalls mit Gewalt auch durchsetzen zu müssen. Im Gegensatz zur Innenpolitik, in der Röhl einräumt, dass sich die Gestaltungsmöglichkeiten des Kaisers angesichts der großen Krisen und ungeheurer eigener Fehler verringert hätten, erscheint er in der Außenpolitik weiterhin als derjenige, der für den Weg in die Katastrophe verantwortlich war. Bei aller Dysfunktionalität des Systems, sei er die "entscheidende Kraft" geblieben (24). Mit großer Akribie und so quellennah wie möglich rekonstruiert Röhl daher "die Kriegsbereitschaft - ja die zunehmende Kriegsentschlossenheit - des Kaisers und seiner Generäle" (27, 927-1175). Anders als man es angesichts mancher vorhergehender Äußerungen Röhls vielleicht erwartet hätte, teilt er allerdings nunmehr die Verantwortung für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Auch wenn er an Wilhelms martialischer Haltung keinen Zweifel lässt, so gesteht er nun doch zu, dass der Kaiser im Juli 1914 bis zu einem gewissen Grad auch ein Getriebener seiner eigenen Rhetorik war. "Welche Zweifel auch immer der Kaiser nach seiner Rückkehr von der Nordlandreise gehegt haben mag - in den letzten Tagen vor dem Ausbruch des großen Krieges waren sie geschwunden. Gegen den Kriegskurs erhob er keinen Einspruch mehr, sondern er agierte entschlossen als Haupt eines Entscheidungsapparats, dessen Aufgabe es war, die beträchtlichen - wenn auch nur taktisch bedingten - Meinungsverschiedenheiten zwischen der zivilen Reichsleitung, der Generalität und der Marineleitung beizulegen." (1150).
Auch wenn Röhl dies so nicht ausspricht, in dieser Situation ist auch der Ursprung des rapiden Niedergangs der kaiserlichen Macht seit dem Sommer 1914 zu sehen. Röhl beschreibt diesen, freilich eher in geraffter Form; gerade einmal 70 (!) Seiten müssen reichen, um diesen zu erklären. Gleiches gilt für die Rolle des Kaisers im Exil. Gewiss, er blieb unbelehrbar, spielte in alter Weise mit Rachegedanken, suchte nach Schuldigen und ließ dabei auch seinem Antisemitismus viel stärker als zuvor freien Lauf. Bis zuletzt glaubte er zudem, er könne, ja müsse auf den Thron zurückkehren. Daraus wurde zwar nichts, gleichwohl dokumentierte seine Beisetzung jene Kontinuität "zwischen der Wilhelminischen Ära und dem Dritten Reich", die in Röhls Augen eine der entscheidenden Ursachen für den katastrophalen Weg des Reiches zwischen 1871 und 1945 ist.
Ob man dieser Deutung wird zustimmen können, erscheint zumindest in Teilen fraglich. Dennoch wird man, wenn man alle drei Bände zusammen betrachtet, nicht bestreiten können, dass der direkte oder indirekte Einfluss des Kaisers auf die Innen- und Außenpolitik des Reiches durchaus fatal war. Er hat in vielen Situationen durchaus eine wichtige Rolle gespielt. Der Einfluss anderer Kräfte, sei es im militärischen Establishment, sei es in Teilen der Öffentlichkeit, auf die Herausbildung eines Klimas, das den Schritt in den Krieg unausweichlich erscheinen ließ, sollte jedoch nicht unterschätzt werden. Röhl gesteht dies implizit auch ein. Gleiches gilt für die - hier nicht weiter diskutierte - Innenpolitik. Bei aller Modernität, bei allem Interesse für Technik, in manchen Bereichen hat er mit seiner reaktionären, häufig kruden Haltung gegenüber den Triebkräften der Moderne, seiner Geringschätzung alles Zivilen, seiner Verachtung der Slawen und seines Hasses auf Juden mit dazu beigetragen, ein Klima zu schaffen, dass es seinen Nachfolgern schwer machen sollte, das hinterlassene Erbe zu bewältigen.
Alles in allem: Röhls Leistung kann man nur anerkennen; die Quellen, die er vorgelegt hat, werden allen Historikern von großem Nutzen sein, seine Interpretationen bleiben anregend, selbst wenn man sie nicht immer teilt und seine Beschreibung der von Wilhelm II. geprägten Epoche - der "Wilhelminischen Ära" - ist ein gleichermaßen wichtiger Beitrag zur Geschichte des Kaiserreiches und zur Erklärung der Katastrophe, in die Europa mutwillig von wenigen Verantwortlichen gestürzt wurde.
Michael Epkenhans