Uta Franke: Sand im Getriebe. Die Geschichte der Leipziger Oppositionsgruppe um Heinrich Saar 1977 bis 1983 (= Zeitfenster. Beiträge der Stiftung Sächsische Gedenkstätten zur Zeitgeschichte; Bd. 2), Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2007, 287 S., ISBN 978-3-86583-230-6, EUR 19,00
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Maria Nooke: Für Umweltverantwortung und Demokratisierung. Die Forster Oppositionsgruppe in der Auseinandersetzung mit Staat und Kirche, Berlin: Ch. Links Verlag 2008, 461 S., ISBN 978-3-86153-479-2, EUR 34,90
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Thomas Ahbe / Michael Hofmann / Volker Stiehler (Hgg.): Redefreiheit. Öffentliche Debatten der Bevölkerung im Herbst 1989, Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2014
Elise Catrain: Hochschule im Überwachungsstaat. Struktur und Aktivitäten des Ministeriums für Staatssicherheit an der Karl-Marx-Universität Leipzig (1968/69-1981) , Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2013
Francesca Weil: Verhandelte Demokratisierung. Die Runden Tische der Bezirke 1989/90 in der DDR, Göttingen: V&R unipress 2011
Die Literatur zu Opposition, Widerstand und politischer Strafverfolgung einschließlich der Haft in der DDR ist immens und mittlerweile kaum noch für Fachleute überschaubar. Jedes Schicksal bewegt. Die Erinnerungsliteratur ist breit gefächert. Zuweilen beschleicht den Leser dabei das Gefühl, die Erinnerungen sind zu stark aus einer nachträglichen Perspektive geschrieben. Das ist nicht zu kritisieren, lässt solche Literatur aber nicht selten vor allem für aktuelle Erinnerungsdiskurse interessant erscheinen. Wissenschaftliche Studien wiederum, die von einstigen Protagonisten verfasst werden, leiden oft daran, dass die Quellenarbeit nicht immer wissenschaftlichen Kriterien entspricht, sondern die Autoren ihre subjektiven Erinnerungen in die Interpretationen zu stark einbringen oder nicht kenntlich machen. Das ist verständlich. Zugleich aber wird so eine Literaturgattung bedient, die zwischen wissenschaftlicher Analyse und subjektiver Erinnerung changiert und den Leser zuweilen etwas ratlos zurücklässt.
Die beiden hier vorzustellenden Bücher eint zunächst, dass beide Autorinnen die Gegenstände ihrer historischen Untersuchungen gut kennen und sie sich so selbst zu Untersuchungsobjekten machen. Uta Franke war Mitglied einer von Kirchen unabhängigen "staatsfeindlichen Gruppe" in Leipzig seit Mitte der siebziger Jahre. Maria Nooke gehörte in den achtziger Jahren zu einer oppositionellen Gruppe in Forst, die sich in der Kirche etablierte, ökumenisch ausgerichtet war und deren Mitglieder ein christliches Selbstverständnis hatten. Beide Frauen waren an gesellschaftlichen Veränderungen interessiert, für beide bedeutete Freiheit nicht eine abstrakte Kategorie, sondern war eine konkrete Zielvorstellung, die sie auch für die DDR-Gesellschaft anstrebten. Und beiden ist es eindrucksvoll gelungen, Bücher zu schreiben, die der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der DDR-Gesellschaft und dem SED-Staat Impulse verleihen. Dabei gelingt dem Buch von Uta Franke zudem der Spagat, auch die eigene bewegende Lebensgeschichte so zu integrieren, dass die Leserschaft nicht nur viele und auch überraschende Einblicke en detail in die Überlegungen junger Oppositioneller in den siebziger Jahren und zugleich in die Arbeit von SED, MfS und politischer Strafjustiz erhält, sondern bei aller Distanz zudem ein Buch in der Hand hält, das auf eine außerordentlich angenehme sachliche Art emotional berührt. Maria Nookes Buch basiert auf einer Dissertation, was wohl auch den anderen Stil erklärt. Insider freilich wissen, dass sie sich selbst in ihrer eigenen Darstellung als handelnde Person stark zurücknimmt, zählte sie doch zu den Köpfen der analysierten Forster Gruppe. Die Unterschiedlichkeit beider Bücher ist nicht nur in den verschiedenen Zeiträumen, die behandelt werden, zu suchen. Die Geschichte von Nooke mündet in der Revolution von 1989, die von Franke 1979 im Gefängnis.
Uta Franke beschreibt anhand von MfS-Akten, Interviews und anderen Quellen, wie sich Mitte der siebziger Jahre in einem Freundeskreis aus politischen Diskussionszirkeln feste Strukturen entwickelten, die schließlich konkrete Aktionen beförderten. Es handelte sich um junge Leute, die den SED-Sozialismus kritisierten und ablehnten und einen freiheitlichen Sozialismus anstrebten. Einen Politisierungsschub erfuhr die lose Gruppe 1976 durch die Selbstverbrennung von Pfarrer Oskar Brüsewitz und die Ausbürgerung Wolf Biermanns. Durch Zufall lernte sie Heinrich Saar (1920-1995) kennen. Dieser war bereits 1958 als "Revisionist" zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Zuvor war der Altkommunist an der Leipziger Universität als Wissenschaftler und Funktionär tätig. Nach seiner Amnestierung 1961 arbeitete er auch als IM des MfS, aber nicht mehr an einer Universität. Saar war es, der die Gruppe aufforderte, nicht nur zu diskutieren, sondern auch zu handeln. Deren spektakulärste Aktion bestand darin, am Völkerschlachtdenkmal zwei Losungen in zehn Meter Länge und einem Meter Höhe anzusprayen, die 1978 die Freilassung Rudolf Bahros forderte. Saar erhielt erneut 7 Jahre und 6 Monate Gefängnis, Uta Franke 2 Jahre und 4 Monate, mehrere weitere Männer und Frauen zum Teil mehrjährige Freiheitsstrafen.
Das Besondere an Frankes Buch ist die detailgenaue Rekonstruktion, die weder die verschiedenen Motive glättet noch Dinge wie Mut, Verrat, Standhaftigkeit, Zweifel, Naivität oder Wankelmütigkeit ausspart. Hier werden Menschen als Individuen und als Handelnde in Gruppen nicht vorgeführt, sondern in ihrem widersprüchlichen Denken und Handeln eindrucksvoll nachgezeichnet. Obwohl die Autorin Teil dieser Gruppe und demzufolge Ziel einer bald einsetzenden umfassenden Beobachtungs- und Zersetzungsstrategie des MfS war, gelingt ihr auch die Schilderung der perfiden MfS-Aktivitäten beispielhaft. Das Buch ist zudem außerordentlich anschaulich und flüssig geschrieben. Und besonders ist hervorzuheben, dass die Autorin nicht nur die Haftbedingungen eindrücklich nachzeichnet, sondern auch die Zeit nach dem "Freikauf" durch die Bundesregierung (1981/82) mit einbezieht. Da es sich um junge Erwachsene handelte, die in die Mühlen der politischen Strafjustiz gerieten, ist schließlich hervorzuheben, dass Uta Franke auch private Belastungen nicht ausspart: Gerade und vor allem die kleinen Kinder, die noch 20 Jahre später, nun selbst erwachsen, fragten, ob dies nicht alles verantwortungslos gewesen sei. Immerhin mussten mehrere Kinder einige Jahre ohne ihre Mütter und/oder Väter aufwachsen. Uta Frankes Tochter scheint jedenfalls trotz aller Belastungen zu Recht stolz auf ihre Mutter zu sein, denn sie hat ihre Mutter nicht nur mit zu diesem Buch inspiriert, sondern mit ihrem Freund zugleich den ersten Dokumentarfilm über die Gruppe gedreht. Man kann dem Buch nur eine große Verbreitung wünschen: In der politischen Bildung ebenso wie in der zeithistorischen Forschung, als Quelle im Schulunterricht und wie es überhaupt jedem historisch Interessierten, der sich über Formen von Diktaturwirklichkeiten kundig machen will, dringend nahegelegt sei. Ich habe jedenfalls nur selten ein Buch von einer(m) "Betroffenen" gelesen, das so überzeugend wissenschaftliche Rationalität, persönliche Erinnerungen und eine klare, aber ausdrucksstarke Sprache zu vereinen wusste. Chapeau!
Maria Nookes Buch über den "Ökumenischen Friedenskreis der Region Forst" stellt eine wichtige regionalgeschichtliche Untersuchung zur Geschichte von Opposition und Widerstand in den achtziger Jahren dar. Die Autorin erläutert zunächst ihre Forschungsziele und Fragestellungen, geht auf die Quellen ebenso ein wie auf Begrifflichkeiten und den Forschungsstand und versäumt es nicht, ihre methodischen Ansätze vorzustellen. Anschließend skizziert sie souverän die lokalen Kontexte der Region Forst, wobei sie sich insbesondere auf die Herrschaftstechniken, die Geschichten der Kirchen und als zentralen Standortfaktor den Braunkohletagebau konzentriert. Hervorzuheben ist dabei, dass sie diese regionalhistorischen Bemerkungen in größere historische Entwicklungsprozesse einordnet und so die Kontinuitäten und Brüche in den Entwicklungen nach 1945 betonen kann. Im ersten Hauptkapitel zeichnet sie sehr differenziert die Entstehung seit Mitte der achtziger Jahre, die innere Verfasstheit und die Rolle der Gruppe im Herbst 1989 nach und kommt zu dem Ergebnis, dass die kleine Gruppe einen Lernort für Demokratie und Freiheit darstellte, was sich 1989 und auch danach als politisch nützlich herausstellen sollte. Im Kern ging es um Fragen, wie der Gesellschaftskrise in der DDR begegnet, wie Demokratie und Freiheit erstritten, wie die Umwelt wieder intakt gesetzt werden könnte.
Im zweiten Hauptkapitel stehen vier Protagonisten der Oppositionsgruppe im Zentrum. Maria Nooke führte mit ihnen offene Interviews. Sie analysiert vier verschiedene Handlungstypen, die sich innerhalb der Gruppe herausstellten: der Aktionist, der Sinnsucher, der Interessenvertreter und der Politiker. Das geschieht einleuchtend und gerade hier offerieren sich Forschungswege, die andere (regional-)historische Studien zur Opposition aufgreifen und überprüfen sollten. Erst im Vergleich - der in dieser Studie leider kaum stattfindet - wird sich ermessen lassen, inwiefern hier überregional Typisches oder Besonderes zutage befördert wurde.
Im Gegensatz zu dem Buch von Uta Franke gibt es jedoch an der Studie von Maria Nooke ein von ihr nicht gerade elegant gelöstes methodisches Problem zu kritisieren. Sie taucht zwar selbst einige Male im Text und in den Fußnoten als zeithistorische Person auf, aber dass eine zentrale Figur in ihrem Buch, Günter Nooke, die zudem einen eigenen Abschnitt erhält, ihr Ehemann war und ist, kommt - gelinde gesagt - zu wenig heraus. So gibt es hier eine doppelte Nähe zum Untersuchungsgegenstand: Nämlich die eigene Involviertheit der Autorin und dann die ihres Ehemannes. Das ist erwähnenswert, weil sich daraus natürlich auch im historischen Prozess Konstellationen, Diskussionen und eventuell auch Konflikte ergaben, die unreflektiert und unbenannt bleiben. Zudem hätte dem Leser erläutert werden müssen, wie in dieser persönlichen Nähe distanzierte wissenschaftliche Analyse entstehen kann.
Es gibt eine Passage in diesem Buch, die dieses Dilemma geradezu eindringlich vor Augen führt. 1975 kam es in der Region Forst zu einem spektakulären Vorfall, der die Menschen auch noch nach 1990 bewegte und aufwühlte. Ein wegen "Republikflucht" und "staatsfeindlicher Hetze" zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilter Mann floh aus dem Cottbuser Gefängnis, um über die polnische Ostsee in die Bundesrepublik zu flüchten. Auf seiner Flucht suchte er in einem Pfarrhaus Schutz und Hilfe. Entgegen innerkirchlichen Vereinbarungen informierten schließlich nach langen Debatten zwei Pfarrer die Polizei, die ihn festnahm. Der Mann erhielt zehn weitere Monate Gefängnis. Einer der daran beteiligten Pfarrer Georg Herche, der selbst 1958 zu zehn Monaten Gefängnis verurteilt worden war, ist der Vater der Autorin, was der Leser aber nicht erfährt. Das ist umso bedenklicher, da Nooke das Vorgehen, die Polizei einzuschalten, mit "christlich-ethischen Gründen" verteidigt und völlig übertrieben von einer Medienkampagne gegen die beteiligten Pfarrer spricht. Der Hintergrund ihrer Argumentation bleibt für den unwissenden Leser unklar. Die um ihr Verhältnis zu Herche wissen, können nun gerade "christlich-ethische Gründe" nicht nachvollziehen, haben sie doch dem politischen Flüchtling dessen eigene Entscheidung, alles für die Freiheit zu riskieren, vormundschaftlich abgenommen. Dabei stand Nooke ein Zitat zur Verfügung, mit dem sie sehr gut die komplizierte Situation der Pfarrer, der Region, aber auch des Flüchtlings ohne eigene Kommentare beschreibt: "[...] man erkennt Diktaturen daran, dass es solche Tragödien dort gibt." (84) Die methodischen Bemerkungen von Maria Nooke zur eigenen Forschungssituation (29f.) befriedigen nicht und lassen keine Ansätze erkennen, wie sie das Problem in den Griff bekommen wollte. Man hätte schon gern erfahren, wie dieser Vorgang z.B. die Autorin selbst geprägt und vielleicht ihr politisches Selbstverständnis beeinflusst hat. Doch abgesehen von diesem Einwand stellt Maria Nookes Arbeit einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der Opposition in der Spätphase der DDR dar. Es sind nicht die großen Thesen, die ihre Arbeit auszeichnen, sondern die detailgenaue historische Rekonstruktion einer Gruppe. Der Erkenntnisgewinn ist groß.
So haben wir es hier mit zwei Studien zu tun, die ihre Perspektive jeweils auf eine andere Oppositionsgruppe fokussieren, dabei im Vergleich neben Gemeinsamkeiten auch viele Unterschiede aufweisen, die mit der weltanschaulichen Ausrichtung ebenso zusammenhängen wie mit den verschiedenen historischen wie regionalen Kontexten. Und insgesamt stellen beide Bücher Beispiele dar, wie Subjekte der Geschichte sich selbst zu Objekten der Forschung machen können.
Ilko-Sascha Kowalczuk