Ewald Grothe (Hg.): Ludwig Hassenpflug. Denkwürdigkeiten aus der Zeit des zweiten Ministeriums 1850-1855 (= Politische und parlamentarische Geschichte des Landes Hessen; Nr. 34), Marburg: Elwert 2008, XXVI + 425 S., 18 Abb., ISBN 978-3-7708-1317-9, EUR 32,00
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Den 10. December 1856 langte ich in Marburg mit meiner Familie an, ohne mit dem Kurfürsten weiter zusammen zu kommen . Der letzte Satz in den "Denkwürdigkeiten" Ludwig Hassenpflugs zieht unfreiwillig das Fazit über die Amtszeit dieses kurfürstlich hessischen Ministers, der- so einleitend Herausgeber Ewald Grothe - zu den markantesten und unbeliebtesten deutschen Politikern des 19. Jahrhunderts gehörte (X). Hassenpflug war als Staatsmann gescheitert, zog sich aus der Politik nach Marburg zurück, ohne noch einmal die Person zu treffen, die für seinen politischen Sturz verantwortlich war: Kurfürst Friedrich Wilhelm von Hessen-Kassel. Dabei war dies keine neue Erfahrung für den Minister. Nach seiner ersten Amtszeit als kurhessischer Staatsminister von 1832 bis 1837 wurde er 1855 ein zweites Mal aufgrund persönlicher Differenzen mit dem Regenten entlassen, der ihn 1850 reaktiviert hatte.
In den nun erstmals gedruckt vorliegenden "Denkwürdigkeiten" beschreibt Hassenpflug seine zweite Amtszeit, die sowohl innen- als auch außenpolitisch durchaus spektakuläre Züge trug. Wie in anderen deutschen Staaten waren auch im Kurfürstentum Hessen-Kassel die frühen 1850er Jahre eine Epoche der Reaktion, in welcher die meisten Entscheidungsträger um die Beseitigung zahlreicher Reformen des Revolutionsjahrs 1848/49 bemüht waren. Hassenpflug gehörte zu den Protagonisten dieser Politik wie auch Joseph von Linden in Württemberg oder Ludwig Rüdt von Collenberg in Baden. Die politischen Verhältnisse in Kurhessen ragten jedoch insofern heraus, als es hier zu einer einzigartigen Zuspitzung der Situation kam. Die Steuerverweigerung des Landtags und das dort seiner Ansicht nach vorherrschende ganz elende Parteigetriebe (83) beantwortete Hassenpflug mit der Verhängung des Kriegszustands und der Erwirkung einer Bundesexekution, in deren Verlauf das Land von bayerischen und österreichischen Truppen besetzt wurde. Was der Minister als Kampf gegen die Frechheit der Bewohner des Landes rechtfertigte (93), machte ihn als Inkarnation der Reaktion in der liberalen Presse ganz Deutschlands verhasst. Hassenpflug billigt sich dabei die Rolle eines gezielt agierenden Entscheidungsträgers zu, der den Konflikt auch in dieser Form bewusst gesucht habe und stets Herr der Lage gewesen sei - eine Sichtweise, die - so Herausgeber Ewald Grothe richtigstellend - nur in rechtfertigender Absicht aus der Rückschau entstanden sein konnte. Denn die letztlich eingetretene Eskalation war tatsächlich von keiner Seite in dieser Form beabsichtigt, auch für Hassenpflug selbst wäre eine frühere Einigung mit dem Landtag von Vorteil gewesen. Diese Perspektive des Politikers, der sich agierend und seine Umwelt fast ausschließlich reagierend darstellt, zieht sich durch die gesamten Memoiren. Entsprechend sieht sich Hassenpflug vor allem gegen Ende seiner Amtszeit zunehmend von der Aßenwelt unverstanden und als Opfer des seiner Ansicht nach irrational handelnden und charakterschwachen Kurfürsten.
Tiefergehende Einblicke gibt der Minister in die reaktionäre Gesetzgebungs- und Kirchenpolitik der Jahre 1852 bis 1855, die unter anderem von der Reform des Justizwesens, des Staatsdienergesetzes und des Eherechts geprägt waren. Hassenpflug beschreibt die Eingaben und Verhandlungen im Landtag ebenso wie die Entscheidungsprozesse im Ministerium und gibt dabei detailliert eigene Stellungnahmen wieder wie etwa bei Wiedereinführung der Prügelstrafe, die 1848 aufgehoben worden war. Aus dem Nähkästchen plaudert der Minister schließlich bei der Klage über sein seiner Ansicht nach unzureichendes Gehalt, womit er sich rückblickend vor seinen zahlreichen Gläubigern zu rechtfertigen sucht. Auf die Kosten seines eigenen Lebensstils geht er dabei freilich nicht ein.
Zum Beweis der Wahrhaftigkeit seiner Schilderungen zitiert Hassenpflug in Anmerkungen zu seinem Text fleißig aus Zeitungsartikeln, Gesetzestexten und internen Vermerken und verweist darüber hinaus auf weitere Anlagen. Diese Kompilation unterschiedlicher Textstränge stellte den Herausgeber vor größere Schwierigkeiten. Aus Platzgründen wurde - verständlicherweise - darauf verzichtet, die erwähnten Anlagen, die sich im Nachlass Hassenpflugs im Staatsarchiv Marburg befinden, wiederzugeben. Über den editorischen Umgang mit den Anmerkungen Hassenpflugs ließe sich hingegen durchaus diskutieren. Der Herausgeber hat sich dafür entschieden, sie in den Haupttext zu integrieren und mittels einer kleineren Schriftgröße auszuweisen. Der Text, der ansonsten über 300 Seiten hinweg keinerlei Gliederung aufweist, erhält dadurch eine undurchsichtige Scheinuntergliederung, was die Lesbarkeit erschwert. Möglicherweise wäre es besser gewesen, die Hassenpflugschen Anmerkungen ebenso wie die redaktionellen Hinweise als Fußnoten mit jeweils eigenem Zählstrang wiederzugeben.
Die Hauptverantwortung dafür, dass der gesamte Text nur schwer lesbar und keine ganz leichte Kost ist (V), liegt jedoch bei dem ministeriellen Verfasser selbst, der einen langen und schnörkelhaften Satzbau liebte, gliedernde Absätze vermutlich hasste und sich dafür gerne in langatmigen Details verlor. Vor diesem Hintergrund können von dem Text in erster Linie ausgewiesene Experten zur kurhessischen Landesgeschichte profitieren - was so auch vom Herausgeber konstatiert wird (XXVI), der im Übrigen diesem Personenkreis zuzurechnen ist. Dennoch ermöglichen die erläuternden Fußnoten sowie vor allem das mit großem Fleiß erstellte Personen-, Sach- und Ortsregister, dass auch andere Leser einen Zugang erhalten können zu den vielen interessanten Details, die sich in der Textwüste verstecken.
Daher, gerade vor dem Hintergrund, dass nur wenige Ego-Dokumente von den konservativ-reaktionären Entscheidungsträgern überliefert sind, ist die Veröffentlichung der Hassenpflugschen Memoiren mit der profunden Einführung des Herausgebers Ewald Grothe in jedem Fall zu begrüßen.
Harald Stockert