Ewald Grothe (Hg.): Konservative deutsche Politiker im 19. Jahrhundert. Wirken - Wirkung - Wahrnehmung (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen; 75), Marburg: Historische Kommission für Hessen 2010, XII + 195 S., ISBN 978-3-942225-09-0, EUR 29,00
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Hartwig Brandt / Ewald Grothe (Hgg.): Quellen zur Alltagsgeschichte der Deutschen 1815-1870, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2005
Was bedeutete Konservatismus im 19. Jahrhundert? Lassen sich Generationszusammnehänge herstellen, die typisch konservative Denkmuster begünstigten? Wie sah das Verhältnis von Realität, Fremd- und Selbstwahrnehmung aus? Diese Fragen versuchte eine Tagung im Staatsarchiv Marburg im November 2008 am Beispiel acht konservativer deutscher Politiker zu erörtern.
Der vorliegende Band, herausgegeben vom Wuppertaler Historiker Ewald Grothe, präsentiert nun die Beiträge der Konferenz sowie den Katalog der zeitgleich eröffneten Ausstellung über Ludwig Hassenpflug (1794-1862) im Staatsarchiv Marburg. In einer kurzen Einleitung von Ewald Grothe und Edgar Liebmann werden die Fragestellungen des Colloquiums erläutert, nicht jedoch, nach welchen Kriterien die behandelten Staatsmänner ausgewählt wurden.
Den Anfang macht Hartwig Brandt mit seiner knappen Abhandlung über den österreichischen Staatskanzler Clemens von Metternich (1773-1859). Dieser wird als Feind des "bürgerliche[n] Repräsentativstaat[s]" (17) und als emotions- und visionsloser Realpolitiker dargestellt, der aus rein pragmatischen Gründen an der Monarchie festhielt. Allerdings entsteht an dieser Stelle ein Widerspruch, wenn Brandt Metternich den Sinn für Tradition abspricht, obwohl er zu Beginn dessen Begeisterung für den Glanz des Alten Reiches als prägend und ausschlaggebend für seine politische Ausrichtung darstellt. Leider wird auch die Frage nach der Selbst- und Fremdwahrnehmung nicht explizit beantwortet. Gar nicht zur Sprache kommen bei Brandt eventuelle Generationszusammenhänge, auf die Ewald Frie in seinem Beitrag über den preußischen Militär und Agrarier Ludwig von der Marwitz (1777-1837) dafür umso mehr eingeht. Frie sieht das Generationenkonzept als für die behandelte Personengruppe nur "schwer handhabbar[]" (33), da, wie auch im Fall von Marwitz, regionale und soziale Prägungen eine größere Rolle spielten als rein jahrgangsabhängige Generationszugehörigkeiten. So waren für Marwitz stets seine Familientradition und Preußen die höchsten Werte, zu deren Wohl er handelte. Diesen Eindruck vermittelt der umfangreiche Nachlass des Agrarreformers ebenso wie jenen vom gescheiterten Innenpolitiker, "der mit sich, nicht aber mit der Welt, im Reinen [war]." (28)
Zwei gänzlich andere Spielarten des Konservatismus vereinte der von Hans-Werner Hahn vorgestellte hessen-darmstädtische Minister Karl Wilhelm Heinrich du Bos du Thil (1777-1859) in seiner Person. Zunächst stand er den rheinbündischen Reformen ausgesprochen positiv gegenüber, hielt das Alte Reich für strukturell hinfällig. Seine Reformen dienten entweder der Eindämmung der Revolutionsgefahr oder der Stabilisierung der Monarchie durch den Ausbau der Staatsbürokratie. Auf die Erfolge der Liberalen in den 1830ern reagierte du Thil aber, wie aus seinen Briefen hervorgeht, stark verunsichert mit zunehmender Repressionspolitik. Diese neue Position war es jedoch, die auch die zeitgenössische Wahrnehmung prägte. In der Presse und bei den Liberalen überwog "das Bild des engstirnigen [...] Reaktionärs" (51), das sich auch in der Forschung lange gehalten hat.
Ein wenig schmeichelhaftes Bild zeichnet Hans-Peter Becht vom badischen Minister des Auswärtigen und des Großherzoglichen Hauses Friedrich Landolin Karl von Blittersdorf (1792-1861). Während seiner fünfjährigen Amtszeit wurde in Baden kein einziges Reformgesetz verabschiedet, stattdessen baute er die zweite Kammer des Parlaments in eine zur Mehrheitsbildung unfähige Parteienversammlung um. Das von ihm angerichtete innenpolitische Chaos führte letztendlich auch zum Bruch mit dem Landesherrn. In der Öffentlichkeit avancierte Blittersdorf, so Becht, vor allem deshalb "zum Feindbild par excellence" (66), weil er seinen direkten und indirekten Einfluss durch Einsetzen ihm loyaler Beamter in Schlüsselpositionen und das Spinnen einer Hofkamarilla um den badischen Großherzog vergrößerte. Ebenso wenig sympathiefördernd stellt Becht den schriftlichen Nachlass Blittersdorfs dar, in dem der ausgeschiedene Minister in rechthaberischer Manier die Gründe für sein Scheitern überall, nur nicht bei sich selbst sah.
Den Beitrag über Ludwig Hassenpflug, dem auch die oben genannte Ausstellung galt, liefert der Herausgeber des Bandes, Ewald Grothe. Er charakterisiert Hassenpflug politisch als "antirevolutionär und antiparlamentarisch im Negativen, monarchisch, christlich und rechtlich im Positiven" (78). Dass der kurhessische Doppelminister (1850-1855) auch unter seinen Gesinnungsgenossen wenig Freunde hatte, lag laut Grothe an seiner kühlen und berechnenden Art, wohl aber auch an seiner besonderen religiösen Überzeugung als Anhänger der Erweckungsbewegung. In seinen Erinnerungen erhob er zwar den Anspruch, das Geschehene objektiv wiederzugeben, verfasste aber dennoch eine Abrechnung mit seinem Landesherrn Friedrich Wilhelm, mit dem er mehrmals aneinander geraten war. Zudem offenbart sich dort ein überaus negatives Menschenbild. In dem aufschlussreichen und sinnvoll gegliederten Aufsatz verwundert lediglich, dass Grothe als Herausgeber in der Einleitung die Fragestellung des Bandes formuliert, den Aspekt der Generation selbst aber außer Acht lässt.
In mehrerlei Hinsicht eine Ausnahme unter den hier behandelten Konservativen stellt der preußische Militär, Diplomat und kurzzeitige Außenminister Joseph Maria von Radowitz (1797-1853) dar. Brigitte Meier beschreibt einen Mann, der in seinen Aufzeichnungen eine ungewöhnliche Fähigkeit zur Selbstkritik erkennen ließ, sich nicht durch Starrsinn, sondern durch politische Flexibilität auszeichnete und mehr als Visionär eines sozialen Königtums denn als Machtmensch und Realpolitiker in Erscheinung trat. Neben diesen Gründen war vor allem seine Herkunft aus einer verarmten, halb ungarischen Adelsfamilie ausschlaggebend für seine Außenseiterrolle und die Anfeindungen in der preußischen Oberschicht. Politisch wirken konnte er hauptsächlich wegen seiner Freundschaft zum Kronprinzen und späteren preußischen Monarchen Friedrich Wilhelm.
Josef Matzerath beleuchtet in seinen Ausführungen über den sächsischen Außenminister Friedrich Ferdinand von Beust (1809-1886) einen gänzlich anderen aber nicht minder spannenden Aspekt des politischen Lebens im 19. Jahrhundert, nämlich den Zusammenhang zwischen Politik und Privatem, zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit. Gegenstand sind eine Affäre des verheirateten von Beust mit einer ebenfalls verheirateten Frau und die Bemühungen, die Affäre trotz Duellforderungen des betrogenen Ehemanns aus der Öffentlichkeit zu halten. Festgehalten wurden die Vorgänge vom Freund und Kollegen des sächsischen Außenministers, Carl von Weber. Matzerath zeigt, wie im 19. Jahrhundert eine Moralverfehlung wie Ehebruch, die noch dazu einen Straftatbestand erfüllte, unter Ausnutzung des diplomatischen Apparates ohne weitere Konsequenzen von der Öffentlichkeit ferngehalten werden konnte. Gerade die Bedeutung der Öffentlichkeit, deren Rolle in diesem Fall besonders relevant gewesen wäre, wird aber leider nicht erörtert.
Im letzten Beitrag untersucht Volker Ullrich die Handlungsmotive und -maximen 'des' konservativen deutschen Politikers, Otto von Bismarck (1815-1898). Laut Ulrich war sowohl seine Außen- als auch seine Innenpolitik frei von jeglichen ideologischen Beweggründen. Bündnisse mit Parteien waren "rein instrumenteller Natur" (135) und in außenpolitischen Fragen zählte nur die Machtsteigerung Preußens, die er unter Ausschöpfung aller Möglichkeiten der Diplomatie äußerst erfolgreich vorantrieb. Als Konstanten sieht Ulrich lediglich Bismarcks "unbedingte Loyalität zum preußischen Herrscherhaus" und "Treue zum monarchischen Prinzip" (127), weshalb er es als unzutreffend bezeichnet, dass Bismarck im Nachhinein zum Nationalisten hochstilisiert wurde, war er doch ein ausschließlich preußischer Patriot.
Damit endet der Textteil des Buches, der bedauerlicherweise nicht durch eine Synthese der Ergebnisse abgerundet wird. Nichsdestoweniger eröffnen die besprochenen Beiträge neue Perspektiven und Ansatzpunkte für weitere Forschungen, wie zum Beispiel die Frage nach dem Zusammenhang von Generationszugehörigkeit und sozialem Hintergrund mit den Denkmustern historischer Personen. Kritisiert werden sollte hingegen, dass der Inhalt nur sehr bedingt dem vollmundigen Titel des Buches gerecht wird.
Der Katalog zur vom November 2008 bis Februar 2009 im Hessischen Staatsarchiv Marburg gezeigten Ausstellung über Ludwig Hassenpflug bildet den zweiten Teil des Buches. Die 45 qualitiativ hochwertigen, mit kurzen Erläuterungen versehenen Abbildungen sind in sechs Gruppen unterteilt: berufliche Laufbahn und Dienstgeschäfte, politische Konflikte mit Landesherrn und Landtag, konservative Kontakte, die Familie, persönliche Aufzeichnungen und eigene Schriften sowie Fremdwahrnehmung. Darunter befinden sich Gemälde, eine Stammtafel, Karikaturen, Zeitungsartikel und Briefe; letztere sind allerdings im abgedruckten Format teils nur schwer lesbar. Der Band wird ergänzt durch ein Personenregister.
Raphael Gerhardt