Olaf Farschid / Manfred Kropp / Stephan Dähne (eds.): The First World War as Remembered in the Countries of the Eastern Mediterranean (= Beiruter Texte und Studien; 99), Würzburg: Ergon 2006, XIII + 452 S., ISBN 978-3-89913-514-5, EUR 68,00
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Hakan T. Karateke / Maurus Reinkowski (eds.): Legitimizing the Order. The Ottoman Rhetoric of State Power, Leiden / Boston: Brill 2005
Matthew S. Gordon: The Rise of Islam, Westport, CT / London: Greenwood Press 2005
ʾAḥmad ʿAbd al-Ḥalīm ʿAṭiyya: Kānṭ wa-ʾunṭūlūǧiyā l-ʿaṣr. [Kant und die Ontologie des Zeitalters], Beirut: Dār al-Fārābī 2010
Der emotionale Höhepunkt dieses Buches befindet sich gut versteckt auf Seite 265. Hinter dem nüchternen Titel "A First-Person Account of the First World War in Greater Syria" verbirgt sich keine textexegetische Präsentation eines historischen Zeugnisses. Sondern das - wenngleich späte - Zeugnis selbst: der Augenzeugenbericht des 93-jährigen Historikers Nicola Ziadeh. Mit seinem Vortrag hatte er die diesem Sammelband zugrundeliegende Konferenz eröffnet und den im Frühjahr 2001 in Beirut versammelten Wissenschaftlern das Thema gewissermaßen in Fleisch und Blut gegenüber treten lassen. Die Publikation hat Ziadeh nicht mehr erlebt, er starb 2006 im Alter von 98 Jahren.
Ebenso fesselnd wie vor acht Jahren sind seine Schilderungen auch heute noch.[1] Entlang den Stationen seiner Schulbildung berichtet der 1907 in Damaskus Geborene aus seiner Kindheit; vom frühen Kriegstod des Vaters über den Umzug der Familie nach Nazareth und Jenin bis hin zu den Ambitionen des erst 13-Jährigen, eine höhere Schule zu besuchen, was die Fälschung seiner Geburtsurkunde durch den mukhtar erforderlich macht. Er berichtet von Not und Hunger, vom Abzug der Deutschen und dem Einmarsch eines australischen Regiments und von den ersten Autos, die er in seinem Leben sieht.
Über das Anekdotische hinaus reizvoll macht Ziadehs Kindheitserinnerungen, dass in ihnen Entwicklungen von übergeordneter Bedeutung zur Sprache kommen: etwa wenn er vom Bau der Hedschas-Bahn spricht, von der Etablierung europäischer Missionsschulen oder von der Einführung von Papiergeld im Osmanischen Reich (die einem Händler aus der Provinz vollkommen entgangen ist, wie der junge Nicola erfährt). Hier wird ansatzweise deutlich, welche nachhaltigen, zumeist von Europa ausgehenden Veränderungen die Levante in den Jahrzehnten um 1900 geprägt haben.
Natürlich hat auch der Erste Weltkrieg in dieser Region seine Spuren hinterlassen. Während er jedoch hierzulande zu den historiographischen "Dauerbrennern" zählt, wird er immer noch selten in all seinen weltweiten Ausmaßen und Folgen beschrieben; der Historiker Jürgen Osterhammel bemerkte unlängst, allzu lange habe die Sicht der Schützengräben an der Westfront die Darstellungen beherrscht. Auch der vorliegende Band ändert an dem weiteren Bedarf nach Globalgeschichten des ersten globalen Krieges nichts Grundlegendes. Er weitet jedoch die Perspektive, um eine bislang unterrepräsentierte Region einzubeziehen: den östlichen Mittelmeerraum und Vorderen Orient.
Zugleich steht nicht der Kriegsverlauf selbst im Zentrum des Interesses, sondern vielmehr seine Verarbeitung und Repräsentation durch Zeitgenossen und spätere Generationen. Die Hinwendung zu "Erinnerungskulturen" und verwandten Themen ist mittlerweile nicht mehr ganz neu; für die Region und die betreffende Epoche darf dieser Band dennoch als Pionierwerk gelten, und es ist den Herausgebern als großes Verdienst anzurechnen, zahlreiche fundierte Beiträge zu einem solch breiten Thema versammelt zu haben. Diese Breite macht es zugleich unumgänglich, aus den 29 Beiträgen des voluminösen Buches eine sehr begrenzte Auswahl zu treffen. [2]
Der Band ist in zwei große Teile gegliedert: 1) "The Political and Social Impact of the First World War" - 2) "Symbolic Processing of the First World War". Im ersten Teil sind vor allem Analysen zu gruppenbezogenen Erinnerungsdiskursen versammelt; gleichzeitig wird danach gefragt, inwiefern die Kriegsereignisse zur Herausbildung, Stabilisierung oder Erschütterung kollektiver Identitäten beigetragen haben.
Richard Hovannisians Aufsatz "The First World War as the Defining Moment in Modern Armenian History" (25-32) liefert ein paradigmatisches Beispiel. Keine andere religiöse oder ethnische Gruppe sei derart drastisch vom Krieg betroffen gewesen wie die Armenier, die nach dem Krieg aus dem asiatischen Teil des Osmanischen Reichs praktisch verschwunden waren. Die armenischen Diasporen seien in der Folge unterschiedlich mit der Erinnerung an den Völkermord umgegangen: Während das Gedenken im Nahen Osten und in der Sowjetunion (wenngleich hier vom Staat unterdrückt) stets präsent gehalten worden sei, habe in Nordamerika ein stärkerer Assimilationsdruck geherrscht. Nichtsdestotrotz verbinde die Erinnerung an die Katastrophe die Armenier bis heute weltweit: "The negative impact of the genocide [...] is the strongest common demoninator linking Armenian communities around the world and these communities, in turn, with the new Armenian republic." (29)
Weitere Beiträge widmen sich etwa italienischen oder griechischen Erinnerungsdiskursen; doch auch nicht-nationale Gruppen werden untersucht, etwa in Marily Booths lesenswerter Analyse zum Einfluss des Krieges auf die Agenda nationalistischer Aktivistinnen in Ägypten ("Babies or the Ballot? Women's Constructions of the Great War in Egypt", 75-90). Zwei Autoren setzen sich mit der interessanten Frage nach den politischen, sozialen und kulturellen Dimensionen von Krankheiten und körperlichem Leiden auseinander: Guido Steinberg zeigt in "The Commemoration of the 'Spanish flu' of 1918-1919 in the Arab East" (151-162), dass die Spanische Grippe im arabischen Osten unterschiedlich stark nachwirkte: Während die Epidemie von den vom Kriegsgeschehen kaum betroffenen Beduinen Zentralarabiens als einschneidendes Ereignis wahrgenommen wurde, verblasste die Erinnerung daran in Syrien angesichts der politischen Wirren der Zeit schnell.
Yücel Yanıkdağs Beitrag "Ottoman Psychiatry in the Great War" (163-178) kann sowohl als Kapitel zur osmanischen Kriegsgeschichte gelesen werden als auch als ein Beitrag zur Globalisierung der europäischen Medizin. Yanıkdağ schreibt, dass die osmanische Psychiatrie - stark beeinflusst von deutschen Debatten - zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Konzept der "traumatischen Neurose" übernommen hatte. Im Ersten Weltkrieg habe sich unter osmanischen Medizinern jedoch die Gegenposition durchgesetzt, mit der Folge, dass betroffene Soldaten entweder als "schizophren" bzw. "hysterisch" oder als Deserteure eingestuft wurden.
Die nach dem Krieg zurückgekehrten Kriegsgefangenen (die häufig unter posttraumatischen Stresssyndromen litten) hätten wenige Jahre später dann ebenso darunter zu leiden gehabt, dass sich in den Diagnosen osmanischer Mediziner medizinische und nationalistische Motive überlagerten: "In their self-appointed role as guardians of the mental health of the Turkish nation and the military, many doctors passed judgement, if indirectly, on those who had taken part in the Great War." (174) Dass hierbei auch der Gedanke eine Rolle spielte, es hätten gerade nicht die "fittesten" Soldaten den Krieg überlebt, weist auf den Einfluss rassistischer Diskurse in der türkischen Psychiatrie dieser Zeit hin.
Der umfangreichere zweite Teil des Buchs, "Symbolic Processing of the First World War", rückt die Frage nach der Verarbeitung der Kriegsereignisse in den Mittelpunkt. Mehrere Beiträge werfen dabei theoretische Fragen auf, wie etwa diejenige nach dem Zusammenhang individueller und gemeinschaftlicher Erinnerungen. Ausdrücklich tut dies der Beitrag Christoph Schumanns, der Überlegungen zum umkämpften "Schlachtfeld" der Erinnerung anstellt ("Individual and Collective Memories of the of the First World War", 247-263).
Zwei interessante Beiträge thematisieren den Umgang mit dem Ersten Weltkrieg in der türkischen Literatur: Martin Strohmeiers "Monumentalism versus Realism: Aspects of the First World War in Turkish Literature" (297-319) und Christoph Neumanns "The First World War as a Time of Moral Failure: Its Reflection in Turkish Novels" (321-328). Beide weisen darauf hin, dass der Erste Weltkrieg in der Türkei in seiner Bedeutung stets dem Unabhängigkeitskrieg (1919-1922) nachgeordnet gewesen sei. Ansonsten zeichnen sie sehr unterschiedliche Bilder: Strohmeier beschreibt materialreich, inwieweit realistische Erfahrungen in die türkische Pro- und Antikriegsliteratur der Zeit eingegangen sind. Neumann konzentriert sich dagegen auf spätere, belletristische Publikationen, in denen der Erste Weltkrieg vor allem als "moralisches Versagen" der alten Eliten interpretiert wurde. Konkrete Beschreibungen des Kriegsgeschehens fehlten in diesen Werken dementsprechend.
Abschließend erwähnt werden sollte der Aufsatz "'Sherifian' Officers in Interwar Iraq and 'Germanophilia' - A Heritage of the German-Ottoman Military Partnership? The Case of Ja'far al-'Askari" (375-387). Darin argumentiert Peter Wien, dass prodeutsche Tendenzen im Irak der 1930er Jahre und faschistische Strömungen voneinander getrennt werden müssten. Als Produkt einer längerfristigen militärischen Kooperation seien erstere Teil eines spezifischen Elitenbewusstseins gewesen: "[...] Germanophilia was a structural heritage in Iraq from the First World War and the Istanbul-trained officer corps" (386). Für Wien war diese "Germanophilie" ideologisch oberflächlich; es braucht kaum betont zu werden, dass diese umstrittene Frage in der Forschung weiterhin viel Beachtung finden dürfte.
Gern hätte man in dem Band noch etwas öfter explizit theoriegeleitete Perspektiven aufgezeigt bekommen, wie etwa in den Beiträgen Christoph Schumanns oder Isa Blumis ("Divergent Loyalties and Their Memory: How Three Albanians Shaped Their Histories of the Great War", 331-343); viele Artikel verbleiben demgegenüber weitgehend im deskriptiven Rahmen. Doch auch sie liefern zusammengenommen eine beeindruckende Bestandsaufnahme der mannigfachen Ver-, Auf- und Umarbeitungen des Ersten Weltkriegs im östlichen Mittelmeerraum. Zugleich stecken sie ein Forschungsfeld ab, das noch viel Potential besitzen dürfte, insbesondere für vergleichende Studien. So sind abschließend lediglich zwei Dinge mit Bedauern zu vermerken. Zum einen hat sich die Publikation der Konferenzbeiträge reichlich lange hingezogen; Wechsel in der Herausgeberschaft waren hierfür verantwortlich. Zum zweiten: Wie üblich konnten keine israelischen Historiker an der Konferenz im Libanon teilnehmen. Auch dies ist eine - langfristige - Folge des Ersten Weltkriegs, und es sieht im Augenblick nicht so aus, als würde sich daran bald viel ändern.
Anmerkungen:
[1] Der Rezensent nahm als Praktikant am Orient-Institut der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft in Beirut (OIB) an der Konferenz teil.
[2] Das Inhaltsverzeichnis ist einsehbar unter: http://www.gbv.de/dms/bsz/toc/bsz260410675inh.pdf.
Christian H. Meier