Stephan Albrecht u.a. (Hgg.): Kunst - Geschichte - Wahrnehmung. Strukturen und Mechanismen von Wahrnehmungsstrategien (= Münchener Universitätsschriften des Instituts für Kunstgeschichte; Bd. 7), München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2008, 328 S., ISBN 978-3-422-06783-7, EUR 49,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.
Steffen Siegel: Ich ist zwei andere. Jeff Walls Diptychon aus Bildern und Texten, München: Wilhelm Fink 2014
Ulrich Rehm: Stumme Sprache der Bilder. Gestik als Mittel neuzeitlicher Bilderzählung, München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2002
Klaus Krüger / Alessandro Nova (Hgg.): Imagination und Wirklichkeit. Zum Verhältnis von mentalen und realen Bildern in der Kunst der frühen Neuzeit, Mainz: Philipp von Zabern 2000
Hut ab vor den fünf Herausgebern und den vier Autorinnen der Einleitung dieses Sammelbandes, die das sehr heterogene Textkonvolut von zwanzig Aufsätzen in eine kategorial-systematische Ordnung bringen mussten! Die Publikation basiert auf den Beiträgen einer Tagung, die das Institut für Kunstgeschichte der Ludwig-Maximilians-Universität München anlässlich des sechzigsten Geburtstages seines langjährigen Mitgliedes Prof. Dr. Frank Büttner im Juli 2004 veranstaltet hat. Finanziert wurden Tagung und in Teilen auch die schön gestaltete Publikation mit ihren vielen, oft auch farbigen Abbildungen, von der Gerda-Henkel-Stiftung. Dem Anlass entsprechend, haben sich am Sammelband Schüler und Kollegen Frank Büttners beteiligt, wobei das akademische Spektrum des Faches durch Vertreter anderer Institutionen (Museum, Kunsthandel) und anderer Disziplinen (Geschichte und Ethik der Medizin) ergänzt wird. Auch die thematische Ausrichtung des Bandes mit ihrer Fokussierung auf "Strukturen und Mechanismen von Wahrnehmungsstrategien" verdankt sich letztlich einem Forschungsschwerpunkt Frank Büttners, der sich gerade in den letzten Jahren auch im Rahmen eines Sonderforschungsbereiches mit der "Wahrnehmung der Wirklichkeit" beschäftigt und hier vor allem zur Figur des Betrachters und zur Funktion der Perspektive in der Frühen Neuzeit geforscht hat.
Der Sammelband wird jedoch nicht explizit als Festschrift annonciert, sondern nimmt die Ehrung nur zum Anlass, um einen Forschungsbeitrag sui generis zu leisten. Erklärtes Ziel der Herausgeber ist es, "den historischen (auch künstlerischen) Betrachter und die Möglichkeiten seiner 'Wahrnehmung' zu rekonstruieren" (12). Mit anderen Worten, geht es um nichts Geringeres als um die Analyse der historischen und kulturellen Bedingungen der Wahrnehmung von Bildern und speziell von Kunst, die nicht nur ihre Rezeption, sondern auch schon ihre Produktion mit bestimmen. Im Unterschied zur bisherigen jüngeren Forschung in diesem Bereich, die mit Autoren wie Jonathan Crary, Sebastian Schütze und Stefan Germer in der Einleitung als positive Referenz genannt wird, wird im vorliegenden Sammelband die epochale und kunstgeografische Begrenzung dieser Studien programmatisch überschritten, um die "Komplexität der Einflüsse, die auf Betrachterwahrnehmung wirksam werden, offen zu legen und greifbar zu machen." (12) Was hier zu Recht als Stärke des methodischen Zugriffs herausgestellt wird, besitzt allerdings auch Schwächen. Denn in der Weite des historischen Abrisses, der vom ausgehenden Mittelalter bis in die Gegenwart reicht, und mit der Fülle unterschiedlicher Regionen - Italien, England, Deutschland und die Niederlande - wird der Blick auf die kulturellen Voraussetzungen der Wahrnehmung von Kunst in ihren historischen Wandlungen, Verschiebungen und Umbrüchen notwendigerweise unscharf.
Doch sind historische Epoche und Kunstregion auch nicht - zumindest nicht durchgehend - die systematischen Parameter, nach denen die Aufsätze geordnet sind. So überrascht zunächst der Blick auf das Inhaltsverzeichnis, wenn nach einem Beitrag über die Pest in Venedig ein Text über die "Stadt in der futuristischen Malerei" folgt und sich der Leser danach Beispielen der englischen Malerei, zunächst des 19. und dann des 18. Jahrhunderts widmen soll. Im Folgenden stehen Porträts von Frans Hals auf dem Programm, dann die Freilichtmalerei der Deutschrömer und anschließend der Kruzifixus von Ludwig Gies aus den 1920er-Jahren. Und so geht es weiter. Dass die Abfolge der Aufsätze jedoch keineswegs ungeordnet ist, wie es zunächst den Anschein hat, wird leider erst in der Einleitung erklärt und nicht durch eine entsprechende Gliederung des Inhaltsverzeichnisses eigens markiert.
"Die Spannbreite der Faktoren, die Einfluss auf solche Wahrnehmungsprozesse haben konnten, ist dabei weit." (9) Diese Reflexion vorausschickend, haben die Herausgeber sechs kategoriale Aspekte herausgegriffen, die auch die Abfolge der Aufsätze im Sammelband gliedern. Am Anfang steht die "geographisch und kulturell konditionierte Wahrnehmung", wobei die "Stadt als kulturelles Zentrum" den Schwerpunkt bildet. Danach folgen "Gattungs- und Kontextfragen" und im Anschluss wird der historische Umbruch zwischen "Vormoderne und Moderne" fokussiert. Die folgenden Beiträge beschäftigen sich mit der Lenkung der Wahrnehmung im Museums- und Ausstellungswesen und mit den "besonderen Spezifika der Wahrnehmung von Architektur". Den Abschluss bilden "kunsthistorische Wahrnehmungskategorien".
In methodischer Hinsicht reflektieren die gewählten Kategorien in der Tat die von den Herausgebern programmatisch geforderte Komplexität der Herangehensweise. Jedoch wird nicht deutlich, warum gerade diese Aspekte herausgegriffen und auf andere verzichtet wurde, wie beispielsweise eine geschlechts- oder klassenspezifische Modellierung der Wahrnehmung. Auch eine diskursanalytische Betrachtung wäre denkbar, wie sie Jonathan Crary im Anschluss an Michel Foucault für die Umbruchszeit vom 18. zum 19. Jahrhundert vorgelegt hat. [1] Hinzu kommt, dass die gewählten kategorialen Aspekte auf ganz unterschiedlichen systematischen Ebenen angesiedelt sind, so dass die Zuordnung eines Themas zu einem "Kapitel" in manchen Fällen etwas willkürlich erscheint.
Dass die systematische Konzeption des Sammelbandes in mancherlei Hinsicht nicht ganz überzeugt, ist sicherlich der doppelten Funktion der Schrift und indirekt auch der Finanzierungspolitik der Stiftungen geschuldet. Aus dem Spagat zwischen Festschrift und förderungswürdiger "innovativer wissenschaftlicher Tagung" (siehe Förderungsprogramm der Gerda-Henkel-Stiftung), die eine thematisch präzise Fragestellung und methodische Reflexion verlangt, haben die Herausgeber das Beste gemacht. Kurzweilig ist die Lektüre des Buches allemal, gerade weil die einzelnen Beiträge nicht dem Gänsemarsch der Stile und historischen Epochen folgen. Darüber hinaus sind die einzelnen Texte jeder für sich genommen höchst interessant und liefern Einblicke in unterschiedliche Forschungsbereiche, so dass eine "Blütenlese" je nach Gusto und Interessenlage überaus lohnend erscheint. Für Qualität bürgen zum einen bereits die "großen" Namen der deutschsprachigen Kunstgeschichte, die hier als Autoren vertreten sind. Zum anderen sind aber auch gerade die Aufsätze des wissenschaftlichen Nachwuchses, der auch als Herausgeber fungiert, besonders hervorzuheben.
So liefert Stephan Albrecht einen spannenden Abriss der Architekturgeschichte des Bankgebäudes, ausgehend von Frank O. Gehrys DG-Bank am Pariser Platz in Berlin, und kann dabei überzeugend demonstrieren, wie die ökonomische Theoriebildung die architektonische Gestaltung mit beeinflusst. Michaela Braesel widmet sich der Gattung des conversation piece und legt mit guten Argumenten dar, warum sich gerade diese - im Vergleich zum repräsentativen Staatsporträt - eher informelle Gattung besonders anbot, um die politischen Ansprüche der königlichen Familie George III. zu formulieren. Der Beitrag von Sabine Fastert untersucht Strukturen und Begrifflichkeiten der Kunstgeschichtsschreibung Werner Haftmanns und kommt dabei zu einem durchaus kritischen Ergebnis, was die Genese und ideengeschichtliche Tradition seiner Konzepte anbelangt, die sich bereits bei Wilhelm Pinder im Kontext einer völkisch perspektivierten Kunstgeschichte finden lassen. Das Beispiel, das Andrea Gottdang mit dem Kruzifixus von Ludwig Gies für ihre Untersuchung gewählt hat, eignet sich in ganz besonderer Weise, um Transformationen der Wahrnehmung eines Kunstwerks herauszuarbeiten, wenn sich - wie hier geschehen - die Kontexte der Präsentation verändern. Last but not least, liefert Gabriele Wimböck weit mehr als eine bloße Skizze zur Kunstbetrachtung des "Laien" in der Frühen Neuzeit, indem sie auf höchst gelehrte Art und Weise die wichtigsten Topoi der Kunstliteratur diesbezüglich zusammenstellt und analysiert.
Anmerkung:
[1] Jonathan Crary: Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert, Dresden / Basel 1996; ders.: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur, Frankfurt am Main 2002.
Gerald Schröder