Maren Polte: Klasse Bilder. Die Fotografieästhetik der "Becher-Schule" (= humboldt-schriften zur kunst- und bildgeschichte; Bd. 17), Berlin: Gebr. Mann Verlag 2012, 255 S., 98 Abb. und 12 Abb. auf 6 Farbtafeln, ISBN 978-3-7861-2655-3, EUR 49,00
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Mit einem Augenzwinkern spielt der mehrdeutige Titel des Buches u.a. auf die allgemeine Wertschätzung an, die zumindest einigen Fotografinnen und Fotografen aus der Klasse von Bernd Becher an der Düsseldorfer Kunstakademie sowohl in der Kunstkritik wie auch am Kunstmarkt seit den 1990er-Jahren zuteil geworden ist. Wie Maren Polte in der Einleitung ihrer an der Humboldt-Universität entstandenen Dissertation deutlich macht, dient das Etikett "Becher-Schule" auch als Markenzeichen, das für künstlerische Qualität bürgen soll. Nicht von ungefähr steht somit die Klassifizierung "Becher-Schule" bereits im Titel in Anführungszeichen. Problematisch ist nämlich nicht nur ihre strategische Funktion für den Kunstmarkt, sondern auch die damit verbundene Kanonisierung bestimmter künstlerischer Positionen sowie die suggerierte künstlerische Prägung der Schüler durch ihre Lehrer. Denn wer gehört zur "Becher-Schule"? Während seiner mehr als zwanzigjährigen Lehrtätigkeit von 1976 bis 1998 hatte Bernd Becher ungefähr 80 Schüler und Schülerinnen, wie Christoph Schaden erstmals recherchiert und in einer Synopse dargestellt hat. [1] Doch geht es Polte eben nicht um eine Geschichte und Analyse der "Becher-Schule" im empirischen Sinn, sondern um die Darstellung ihrer gemeinsamen Fotografieästhetik. Und diesbezüglich sei die Einschränkung auf die bekannten fünf Positionen von Candida Höfer, Axel Hütte, Thomas Ruff sowie Thomas Struth und Andreas Gursky durchaus legitim, weil sie die "formal-ästhetischen Elemente [...] [fanden], die heute als Charakteristika der 'Becher-Schule' gelten." (12) Mit dieser Setzung bestätigt Polte den Kanon, der sich seit den späten 1980er-Jahren durch Ausstellungen und Kunstkritik etabliert hat. Ob der Ausschluss weiterer Mitglieder der Becher-Klasse durch das genannte Qualitätskriterium wirklich gerechtfertigt ist, wird in der Dissertationsschrift nicht ausdrücklich bewiesen. Die gewählte Fokussierung ist zwar durchaus sinnvoll, doch wären Seitenblicke über den Rand des engen Kanons an manchen Stellen hilfreich gewesen, um den Variantenreichtum einer weiter gefassten "Becher-Schule" auch in formalästhetischer Hinsicht deutlich werden zu lassen.
Worin besteht nun aber die besondere Fotografieästhetik der "Becher-Schule", die von den hier genannten Künstlerinnen und Künstlern maßgeblich begründet worden sei? Und wie verhält sich diese Ästhetik zur Fotografie von Bernd und Hilla Becher? Um diese Fragen beantworten zu können, stellt die Autorin zunächst im ersten Kapitel ihres Buches das fotografische Konzept von Bernd und Hilla Becher vor, wobei sie die bekannten Ergebnisse der Forschung prägnant zusammenfasst. Für die weitere Argumentation ist wichtig, dass das dokumentierende und klassifizierende Verfahren von Bernd und Hilla Becher, mit dem sie sich programmatisch an der Fotografie der Neuen Sachlichkeit der 1920er-Jahre orientieren, parallel zu den aktuellen Strömungen der bilden Kunst wie Minimal Art und Conceptual Art der späten 1960er- und frühen 1970er-Jahre entwickelt wurde. In diesem Zusammenhang wurden die Bechers rezipiert. Mit anderen Worten: ihre Fotografie wurde als Kunst sanktioniert, was zu dieser Zeit noch keineswegs selbstverständlich war. Auch die Berufung von Bernd Becher im Jahr 1976 nach Düsseldorf auf den ersten Lehrstuhl für Fotografie, der an einer deutschen Kunstakademie eingerichtet wurde, zeugt von diesem neuen Verständnis und Stellenwert der Fotografie als künstlerisches Medium. Wie Polte in den folgenden Kapiteln verdeutlicht, ist gerade diese Nähe zur bildenden Kunst und speziell die Auseinandersetzung mit der Selbstreflexivität moderner Malerei einer der zentralen Aspekte der spezifischen Fotografieästhetik der "Becher-Schule". So gehört zu ihren Grundlagen, die im zweiten Kapitel vorgestellt werden, auch das künstlerische Umfeld an der Düsseldorfer Akademie. Zu Recht verweist die Autorin hier vor allem auf Gerhard Richter, der in seiner Malerei das Medium Fotografie reflektiert, ähnlich wie die Becher-Schüler mit ihrer Fotografie immer wieder bestimmte Aspekte der Malerei thematisieren. Leider wird der interessante Bezug zu Gerhard Richter im Folgenden nicht noch einmal ausführlicher dargestellt und vertieft.
Zu den weiteren Grundlagen zählt die Beschäftigung mit der US-amerikanischen Fotografie. Über ihre umfangreiche Bibliothek haben Bernd und Hilla Becher den Studierenden nämlich nicht nur die deutsche Fotografie der Weimarer Republik vermittelt, sondern auch historische und aktuelle Positionen amerikanischer Dokumentarfotografie. Vor allem die Farbfotografie von Stephen Shore und William Eggleston bildete eine wichtige Referenz, die den Abschied vom Paradigma der Schwarz-Weiß-Fotografie, das für das Werk von Bernd und Hilla Becher weiterhin konstitutiv blieb, erleichtert hat. Aus dieser Gemengelage spezifischer Voraussetzungen entwickelten sich die charakteristischen Bildrhetoriken der "Becher-Schule", wie Polte im folgenden Kaptitel herausstellt. Dazu gehört der Wechsel zur Farbe ebenso wie die Vergrößerung des Formats und die besondere Bildkomposition. Deren kategoriale Differenzierung in "Konstruktion" sowie "digitale und analoge Abstraktion" überzeugt nicht ganz. So handelt es sich wohl bei der Abstraktion mit ihrer nicht-relationalen Strukturierung der Bildfläche als Raster oder als All-over um eine radikalisierte Form der Konstruktion, die ja ebenfalls - wie die Autorin selbst schreibt - auf "eine Bildordnung, also eine Strukturierung der Fläche" (97) abzielt. Dass die hier analysierten Bildrhetoriken einerseits eine Emanzipation von der Fotografieästhetik Bernd und Hilla Bechers darstellen, andererseits jedoch in gewisser Weise in ihrer Tradition stehen, hätte an dieser Stelle genauer ausgeführt werden können. So bedeutet die Verwendung von Farbe und Großformat eine radikale Abgrenzung gegenüber den Lehrern, während die oft strenge Bildkomposition, die immer wieder auf die Flächigkeit des Bildträgers aufmerksam macht, in der grafischen Struktur der Industriefotografien von Bernd und Hilla Becher bereits angelegt ist.
Dass mit den besonderen Bildrhetoriken eine "reflexive und selbstreferentielle Ästhetik" verbunden ist, wird im folgenden Kapitel herausgearbeitet. Dabei ist die Autorin hier wie auch in den anderen Kapiteln immer wieder bemüht, differenziert die graduellen Unterschiede zwischen den einzelnen künstlerischen Positionen herauszuarbeiten. Gerade weil die Reflexion des fotografischen Mediums ein ganz zentraler Aspekt der Fotografieästhetik der "Becher-Schule" ist, hätten die medialen Bezüge noch ausführlicher erörtert und kategorial prägnanter erfasst werden können. Neben der von Polte untersuchten Thematisierung der Oberfläche sowie der Pixelstruktur digitaler Bilder hätte beispielsweise auch der Lichteinfall bei den Innenraumaufnahmen Candida Höfers als Reflexion der fotografischen Lichtspur genannt werden können. Ebenso reflektiert die Pose bei den Familienfotos von Thomas Struth die spezifisch fotografische Arretierung der Zeit und die Selbstbehauptung des Subjekts gegenüber dem objektivierenden Blick der Kamera.
Wenn anschließend die Auseinandersetzung der "Becher-Schule" mit der Tradition der Malerei ausführlicher analysiert wird, bleibt letztlich ungeklärt, wie sich dieser intermediale Aspekt der Fotografieästhetik zu der zuvor thematisierten Selbstreflexion verhält. Was erfahren wir über das Medium Malerei, wenn es in der Fotografie der "Becher-Schule" zum Thema gemacht wird? Welche Gemeinsamkeiten und Differenzen werden im Dialog der beiden Medien deutlich? Und was bedeuten Anlehnung an und Abgrenzung von der Malerei für die Fotografieästhetik der "Becher-Schule"? Diesen Fragen abschließend nachzugehen, hätte vielleicht einen größeren Ertrag geliefert als die Differenzierung der "Becher-Schule" in "Finder" und "Erfinder", die Polte im Schlusskapitel vornimmt. Dass bei der intermedialen Ausrichtung der Fotografieästhetik ein revisionistischer Blick auf den Modernismus eine wichtige Rolle spielen könnte, deutet die Autorin selbst an, wenn sie die unterschiedlichen Blicke von Thomas Struth, Candida Höfer und Andreas Gursky auf Jackson Pollocks Bild im New Yorker MoMA miteinander vergleicht. Dies ist eine der stärksten und gelungensten Passagen im gesamten Buch, weil hier implizit die antagonistische Struktur der "Becher-Schule" anschaulich wird, deren Fotografien immer wieder in Konkurrenz zueinander entstanden sind.
Die solide Studie von Maren Polte zur Fotografieästhetik der "Becher-Schule" liefert eine fundierte Einführung in das Thema und einen guten Überblick. Dass sie dabei bereits auf grundlegende Texte wie beispielsweise von Monika Steinhauser [2] und Stefan Gronert [3] zurückreifen konnte, hätte in der Zusammenfassung des Forschungsstands, der mit zwei Seiten ohnehin etwas kurz ausgefallen ist, angemessener gewürdigt werden können.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Der Rote Bulli. Stephen Shore und die Neue Düsseldorfer Fotografie, Ausst.-Kat. NRW-Forum Düsseldorf, hg. von Werner Lippert / Christoph Schaden, Düsseldorf 2010, 332f.
[2] Vgl. Monika Steinhauser: Architekturphotographie als Bild, in: Ansicht, Aussicht, Einsicht. Andreas Gursky, Candida Höfer, Axel Hütte, Thomas Ruff, Thomas Struth. Architekturphotographie, Ausst.-Kat. Kunstsammlungen der Ruhr-Universität Bochum, hg. von Monika Steinhauser in Zusammenarbeit mit Ludger Derenthal, Düsseldorf 2000, 7-18.
[3] Vgl. Stefan Gronert: Photographische Emanzipation, in: Die Düsseldorfer Photoschule. Photographien 1961-2008, hg. von Lothar Schirmer, München 2009, 13-69.
Gerald Schröder