Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Armin Heigl: Cuius regio, eius religio? Vom Versuch die Oberpfälzer zu Calvinisten zu machen, Regensburg: Edition Vulpes 2009
Cornelis P. Venema: Accepted and Renewed in Christ. The "Twofold Grace of God" and the Interpretation of Calvin's Theology, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007
Elena Taddei: Zwischen Katholizismus und Calvinismus. Herzogin Renata d'Este. Eine Eklektikerin der Reformationszeit, Hamburg: Verlag Dr. Kovač 2004
Reiner Rohloff: Johannes Calvin, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011
Herman J. Selderhuis / Frank Günter (Hgg.): Melanchthon und der Calvinismus, Stuttgart / Bad Cannstadt: Frommann-Holzboog 2005
Donald Sinnema / Christian Moser / Herman J. Selderhuis (eds.): Early Sessions of the Synod of Dordt, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2018
Herman J. Selderhuis / Ernst-Joachim Waschke (Hgg.): Reformation und Rationalität, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015
Christoph Strohm: Calvinismus und Recht. Weltanschaulich-konfessionelle Aspekte im Werk reformierter Juristen in der Frühen Neuzeit, Tübingen: Mohr Siebeck 2008
Das Calvinjahr 2009 hat zu neuer und vorher vielfach nicht geahnter Aufmerksamkeit für den Reformator Johannes Calvin geführt. Ein Hinweis darauf sind - neben allgemeineren Einführungen, die auch biografische Skizzen enthalten - vor allem die hier wahrgenommenen vier Biografien. Abgesehen vom Werk von Neuser, der nur den jungen Calvin traktiert, thematisieren alle anderen die gesamte Lebenszeit. Alle Biografien bieten zuverlässige Einführungen in Leben und Werk Calvins, unterscheiden sich aber beträchtlich voneinander.
Der Heidelberger Kirchenhistoriker Christoph Strohm hat das kürzeste Werk vorgelegt, das in der Wissen-Reihe bei C.H. Beck erschienen ist und sich an diesem Format auch orientiert. Strohm beginnt mit einer Übersicht über die kontroversen Beurteilungen Calvins, die sowohl verleumderische wie auch hagiografische Züge tragen - und er will deshalb "die Spannungen, die Person und Lebensweg kennzeichnen, nicht auflösen, sondern [...] herausarbeiten und zu erklären suchen." (11) Das erklärt wohl auch den formalen Aufbau seines Werkes: Der sorgfältige und präzise Nachvollzug der Lebensstationen Calvins wird unterbrochen durch zwei Kapitel, die sich der Kirchenzucht und den reformatorischen Auseinandersetzungen widmen. Überhaupt wird der Kirchenzucht in der Biografie von Strohm in Relation zum Umfang der Gesamtbiografie der breiteste Raum eingeräumt. Hieran ist aber auch besonders gut die bei Strohm stark fokussierte Frage der Verhältnisbestimmung zwischen den Genfer Räten und Calvins Betonung der Eigenständigkeit der Kirche zu erkennen. Es wird deutlich, dass manche in Genf entstandenen Konflikte auf die vielfach noch nicht erfolgte Feinabstimmung zwischen den zuständigen Gremien zurückzuführen sind und sich im Laufe der Zeit immer weiter und besser einspielten. Aber nicht nur die Genfer Verhältnisse, auch Calvins Persönlichkeit wird hier deutlich: "Er verfügte über einen außerordentlichen Gestaltungswillen und konnte Widerspruch nur schwer oder gar nicht ertragen. [...] Er sah sich als Werkzeug Gottes, das nicht in eigener Verantwortung, sondern im Auftrag handelte." (67) Das theologische Werk Calvins ist in der Biografie ein Nebenschauplatz; Strohm stellt weniger die Inhalte als die Einflüsse dar. Und diese sieht er im Humanismus, in seiner juristischen Ausbildung und bei Luther und Bucer - letzterer spielt in der Prägung von Calvins reformatorischer Konzeption eine wesentliche Rolle, weshalb der Straßburger Zeit auch das ausführlichste Kapitel gewidmet ist. Ein kleiner Hinweis am Rande: Strohm gibt (52) einen Hinweis auf mehrere Kinder, die Calvin und Idelette de Bure gehabt haben sollen und die nach der Geburt verstorben seien; entweder liegt hier ein Irrtum oder eine neue Quelleninformation vor.
Der niederländische Kirchenhistoriker Herman Selderhuis hat die wohl für den deutschen wissenschaftlichen Markt ungewöhnlichste Biografie vorgelegt. Ungewöhnlich ist dabei nicht der rein chronologische Aufbau, sondern eher der Blickwinkel und die Sprache. Die niederländische Originalfassung macht das Vorgehen von Selderhuis fast noch deutlicher als der lange deutsche Untertitel: Calvin - ein Mensch. Der deutsche Untertitel (Mensch zwischen Zuversicht und Zweifel) akzentuiert mehr als der niederländische eine Distanz, die Selderhuis in seinem Buch programmatisch nicht einnehmen will. Seine Biografie ist gekennzeichnet durch eine Sichtweise ganz aus der Perspektive Calvins, weshalb Selderhuis auch mit einer Fülle an Zitaten vor allem aus den Briefen Calvins arbeitet, die er organisch einbindet. Dabei ist es keine historisierende Biografie. Vielmehr wird der Leser des 21. Jahrhunderts immer wieder angeredet, weil er einerseits die Wirkungsgeschichte des Calvinismus und die Ereignisse in Genf unterscheiden und zuweilen auch als Wirkung von Calvin her verstehen soll (manchmal ist bei der Wirkungsgeschichte das Kolorit des niederländischen Reformiertentums deutlich zu greifen) und andererseits nicht die Maßstäbe der Gegenwart zu Urteilskriterien über Ereignisse des 16. Jahrhunderts machen soll. Ungewöhnlich für deutschsprachige wissenschaftliche Bücher ist die das gesamte Buch prägende Ausdrucksweise, die vielfach als recht salopp zu charakterisieren ist. "Darum bekam er schon Hautausschläge" (115) heißt es über Luther im Blick auf dessen Wahrnehmung der radikalen Reformation - oder über Calvin: "Calvin schrieb jedoch so viel, dass er das Schreiben manchmal gründlich satt hatte." (199) Aufgrund der die Person Calvins und ihre Sichtweise zum Ausgangspunkt machenden Biographie hat Selderhuis deshalb auch immer wieder kleinere unvermeidliche Werturteile eingebaut; so heißt es im Blick auf die Umsetzung der Kirchenordnung in Genf: "Leider wollte der Rat jedoch nicht alle Vorschläge Calvins annehmen." (147) Diese führen dazu, dass die Biografie zuweilen einen leicht apologetischen Eindruck vermittelt.
Die "Leben und Werk Johannes Calvins" betitelte Biografie des Zürcher Kirchenhistorikers Peter Opitz sucht anders als beide vorher genannten die Wirkungsgeschichte Calvins so weit wie möglich außen vor zu lassen. Stattdessen wird mehr noch als bei Strohm und Selderhuis das Umfeld Calvins in die Darstellung seines Lebenswegs einbezogen; das betrifft vor allem die Einbettung in das Schweizer Kolorit. Es gelingt Opitz dadurch, Calvin in den Kontext der gesamten süddeutschen, französischen und vor allem eidgenössischen Reformation einzubetten: "Hier geht es immer auch um persönliche Freundschaften und Abneigungen, um theologische Überzeugungen und Gespräche, und nicht zuletzt um politische Machtverhältnisse." (9) Der Aufbau ist streng chronologisch am Leben Calvins entwickelt und verzichtet deshalb auch auf ein Kapitel zur Wirkungs- oder Vorgeschichte. Sehr interessant ist das verhältnismäßig ausführliche III. Kapitel geworden, das - auch aufgrund der intensiven Kenntnisse des Verfassers - sich der Zeit 1535 bis 1538 widmet und Calvins Weg "im Kräftefeld der zwinglisch-oberdeutschen Reformation" (34) aufarbeitet. Opitz weiß, dass aufgrund der spärlichen Quellenlage die meisten Biografien Calvins seiner Basler Zeit wenig Aufmerksamkeit widmen, und hält es doch für wichtig, den neuen "Kommunikationsraum" und das neue "Beziehungsnetz" (34 - dieser Begriff fällt des Öfteren) zu analysieren. Dass es dabei nicht nur zu persönlichen Kontakten kam, sondern dass dies auch Calvins Theologie schon frühzeitig beeinflusste, wird nach Auffassung von Opitz bereits in der ersten Fassung der Institutio von 1536 deutlich, die er als "Zeugnis einer kreativen Synthese der grundlegenden reformatorischen Einsichten sowohl der Wittenberger wie aus der zwinglisch-oberdeutschen Reformation auf dem Boden des französischen Bibelhumanismus" (41) wertet. Opitz sieht somit bereits in der Frühphase Calvins diesen insgesamt weniger stark von Luther beeinflusst - hier sieht beispielsweise Strohm Calvin viel stärker an Luther orientiert. Mit der Überschrift "Als Mitarbeiter Farels in Genf" (42) wirft Opitz ein ebenso ungewohntes Licht auf die Jahre 1536 bis 1538, um diese Zeit nicht im Lichte des zweiten Aufenthalts Calvins in Genf zu verstehen. Diese letzte Periode überschreibt Opitz mit "Im Dienst der Genfer Kirche" (70) und ordnet so die verschiedenen Tätigkeiten einschließlich der Kirchenzucht dieser Intention zu.
Von den drei genannten Biografien unterscheidet sich das Werk des emeritierten Münsteraner Kirchengeschichtlers Wilhelm Neuser. Einerseits bietet es keine umfassende Biografie wie die vorher genannten Werke und andererseits ist es mit ca. 350 Seiten auch keine Einführung, sondern arbeitet vielfach mit bisher weitgehend unausgewerteten Quellen und kommt so zu neuen Ansätzen in Einzelfragen. Nur einige Aspekte der sehr materialreichen Arbeit, die oft zu weiteren Schlussfolgerungen einlädt, seien hervorgehoben. Eine Grundthese in der Entwicklung Calvins ist nach Neuser, dass Calvin sich in einem vierstufigen Prozess zum Reformator entwickelt habe. Die von Calvin in der Vorrede seines Psalmenkommentars selbst so genannte "subita conversio ad docilitatem" ist für Neuser ein Schlüsseltext für seine These, die er anhand verschiedener Interpretationen erhärtet. Abgeschlossen ist der Prozess 1536 mit der öffentlichen Herausgabe der ersten Institutio-Fassung. Aus den vielen Hinweisen sei nur eine ausgewählt: Die in der Verfasserschaft umstrittene Cop-Rede wird von Neuser eindeutig Calvin zugeschrieben, aber sie ist nur als Dokument auf dem Wege zu einer reformatorischen Theologie zu verstehen. Calvin ist hier nach Neusers Auffassung von Melanchthon beeinflusst, wobei entscheidende reformatorische "Marker" (etwa beim Gesetzesverständnis) noch fehlen. Auch bei der Interpretation der ersten Institutio-Ausgabe von 1536 setzt Neuser eigene Akzente. So bestreitet er die für die 1536er Institutio weitgehend behauptete Abhängigkeit von Luther oder Melanchthon, sondern sieht bei Calvin mit dessen Zentralstellung des Grundsatzes der Selbst- und Gotteserkenntnis Gesetz und Evangelium viel enger miteinander verwoben als dies bei den Wittenberger Reformatoren der Fall sei. Mit diesen Hinweisen wird Neusers Vorgehen deutlich: Er liefert eine vor allem an der theologischen Entwicklung Calvins interessierte Interpretation zahlreicher Aussagen Calvins. Ob sich Neusers Thesen durchsetzen werden, bleibt abzuwarten - spannend sind sie allemal. Bedauerlich ist, dass das Werk mit einer Fülle von Druckfehlern aufwartet.
Georg Plasger