Rezension über:

Alexa Geisthövel: Restauration und Vormärz 1815-1847, Stuttgart: UTB 2008, 237 S., 21 Abb., 2 Tab., ISBN 978-3-8252-2894-1, EUR 16,90
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Rezension von:
Birgit Bublies-Godau
Historisches Institut, Ruhr-Universität Bochum
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fahrmeir
Empfohlene Zitierweise:
Birgit Bublies-Godau: Rezension von: Alexa Geisthövel: Restauration und Vormärz 1815-1847, Stuttgart: UTB 2008, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 10 [15.10.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/10/14431.html


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Alexa Geisthövel: Restauration und Vormärz 1815-1847

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Der Zeitraum zwischen 1815 und 1847 wird gemeinhin die Epoche der Restauration und des Vormärz genannt. Er ist durch mehrere einschneidende politische Zäsuren in Deutschland und Europa gekennzeichnet, die diese bedeutende Umbruchs- und Übergangszeit strukturieren und ihm einen festen ereignisgeschichtlichen Rahmen geben: Gedacht ist hier an den Wiener Kongress von 1814/15 als Abschluss des Zeitalters der Französischen Revolution, sodann an die versuchte Gründung eines freiheitlich-demokratischen Verfassungs- und deutschen Nationalstaates 1848/49 und zu guter Letzt, inmitten dieser Zeitläufte, an die Julirevolution mit ihren gravierenden Auswirkungen auf den Deutschen Bund, die die Epoche in eine Phase der Restauration (1815-1830) und eine des Vormärz (1830-1847) teilte. Den umfassenden Veränderungen der Zeit wurde die Aufarbeitung in Staat und Gesellschaft, Öffentlichkeit und Wissenschaft jedoch nicht immer gerecht. Zeitgenössische Beobachter wie spätere Historiker neigten in ihren Memoiren, Parteischriften und Geschichtswerken oftmals dazu, die Ära nur von ihrem Ende, von den Eruptionen der Achtundvierzigerrevolution her zu betrachten und die 33 Jahre davor als "eine etwas farblose, ereignisarme Zwischenzeit" (9) zu bewerten. Symptomatisch dafür ist die Epochenbezeichnung "Vormärz", die nach Ausbruch der Märzrevolutionen 1848 aufgekommen war, damit sich Anhänger wie Gegner der Revolution leichter von den vorangegangenen Jahrzehnten der Stagnation, ja des Biedermeier distanzieren konnten.

Gegen diese Sichtweise wendet sich nun die Historikerin Alexa Geisthövel in ihrem Einführungs- und Studienwerk "Restauration und Vormärz 1815-1847", das in der Reihe "Seminarbuch Geschichte" erschienen ist. Um sich von den Untersuchungen und Deutungen der älteren Geschichtsschreibung abzusetzen, verzichtet die Berliner Forscherin in ihrem dichten Überblick bewusst darauf, die Jahre 1848/49 zum Fluchtpunkt ihrer Darstellung zu machen und sich ausschließlich auf die Geschichte Deutschlands in den Grenzen des Deutschen Kaiserreichs von 1871 zu beschränken. Stattdessen handelt ihr Buch von deutscher Geschichte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, das heißt ihre Betrachtungen beziehen sich auf den Deutschen Bund und schließen neben den deutschen Einzelstaaten auch die österreichische Habsburgermonarchie mit ein. Zudem schreibt sie keine reine Vorgeschichte der Revolution. Vielmehr führt sie dem Leser die Restaurations- und Vormärzzeit als eine eigenständige, geschichtsmächtige Epoche vor Augen und entwirft zu diesem Zweck fachlich fundiert und äußerst kenntnisreich ein vielschichtiges Panorama jener Ära und der sie bestimmenden politischen, sozioökonomischen und kulturellen Entwicklungen von den Wiener Kongressverhandlungen im Anschluss an die antinapoleonischen Befreiungskriege bis zu den Protestwellen und Politisierungsschüben am Vorabend der Revolution. In dem Zusammenhang setzt sich die Autorin, in Anlehnung an Reinhart Kosellecks Begriffsdefinition von der "Sattelzeit", auch mit einigen für diese Periode des Wandels und Umschwungs typischen Elementen auseinander: Sie zeichnet die mannigfaltigen Revolutionen im Industrie-, Agrar- und Transportsektor nach, zeigt die fließenden Übergänge "von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft, von der absoluten Monarchie zum Konstitutionalismus, von der agrarischen Subsistenz- zur industriellen Marktwirtschaft" (9) auf und hebt ältere Phänomene und neuartige Innovationen wie Vorzensur und Freiheitsbäume, Eisenbahn und Aktiengesellschaft hervor, die in dieser Zeit teils nebeneinander stehen, teils sich überlagern.

Wie andere neu konzipierte Referenzwerke will auch die Reihe "Seminarbuch Geschichte" den tief greifenden Bildungs- und Studienreformen der letzten Jahre sowie den damit einhergehenden Herausforderungen und Bedürfnissen im Schul- und Universitätsalltag Rechnung tragen. Sie wendet sich deshalb an Schüler, Studenten und Lehrende, um ihnen "kompakt und kompetent historisches Basiswissen" zu vermitteln. Gestützt auf einen "Dreiklang aus inhaltlicher Analyse, Forschungsperspektiven und Quellenpräsentation" (7) werden diese in die inhaltlichen und theoretisch-methodischen Grundlagen des Faches Geschichte eingeführt, mit forschungsrelevanten Fragestellungen vertraut gemacht und erhalten zusätzlich Hinweise auf einschlägige Literaturtitel, Quellenmaterialien und WWW-Ressourcen.

Dem anspruchsvollen Anliegen der Reihe kommt Geisthövel mit ihrem Werk auf sehr überzeugende Weise nach: So schildert sie im ersten chronologisch aufgebauten Hauptkapitel nicht nur das politische Geschehen auf dem Gebiet des Deutschen Bundes, sondern beschäftigt sich auch mit dem zwischen Reformzeit und Revolutionsära entstehenden monarchischen Verwaltungsstaat und der eng damit verknüpften "Umformung der ständischen Gesellschaft in eine, je nach Standpunkt, Gesellschaft gleichmäßig unterworfener Untertanen oder gleichberechtigter Staatsbürger." (57) Parallel dazu verfolgt sie den Entwicklungsgang oppositioneller Bewegungen: Vom Aufkommen der studentischen Burschenschaften im Zuge von Befreiungskrieg und Wartburgfest, über die Auftritte der bürgerlichen Freiheits- und Einheitsbewegung im Umfeld des Hambacher Festes, bis zu den Anfängen der patriotischen Turn- und Gesangsvereine und der Ausbildung erster weltanschaulicher Lager und politischer Parteiungen von Liberalen, Demokraten, Sozialisten, Konservativen und Katholiken in den sich krisenhaft zuspitzenden 1840er Jahren.

In den darauffolgenden systematischen Hauptkapiteln zu den ökonomischen und demografischen bzw. gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen im Deutschen Bund stehen vor allem die strukturellen Veränderungen im Fokus. Während sich die Autorin im Bereich der Wirtschaft auf die Veranschaulichung des längerfristigen Wandels konzentriert und neben der Neuordnung der agrarischen Produktion und ländlichen Gesellschaftsordnung die nachhaltigen Umwälzungen durch die Industrielle Revolution in Deutschland, beginnend zwischen 1830 und 1840 "als Übergang von der leicht- zur schwerindustriellen Phase" (108) herausarbeitet, überwölbt das Motiv der Bürgerlichkeit ihre Überlegungen zur deutschen Gesellschaft im frühen 19. Jahrhundert. Diese Bürgerlichkeit, die zur "Leitkultur" des Säkulums werden sollte und als ein "wandelbare[r], für viele Einflüsse und Wechselwirkungen offene[r] Verbund von Normen, Bedeutungen und Praktiken" (148) verstanden werden kann, leuchtet sie in mehreren Schritten genau aus: Das geschieht in der Analyse der verschiedenen sozialen Gruppen und Formationen und deren spezifischen Kultur und Lebensführung, weiterhin in der Beschreibung der Reformierung des deutschen Schul-, Universitäts- und Wissenschaftssystems und sogar in der Verortung des Verhältnisses von Religion und Kirche zur aufgeklärt-säkularisierten Gesellschaft.

Ein Ausblick auf die Revolution von 1848/49, der der Frage nachgeht, "welche Entwicklungen den Ausbruch der Revolution begünstigten oder verzögerten" (9), beschließt die Darstellung. Geisthövel beschränkt sich hier auf die Benennung aktueller Deutungen des Revolutionsgeschehens und auf die Klärung jener Ursachen, Motive und Konstellationen, die die Menschen in ihren unterschiedlichen Lebenswelten dazu bewegt haben, eine radikale Umgestaltung der politisch-sozialen Verhältnisse zu befürworten oder abzulehnen, und die sie 1848/49 dann zu Akteuren der Revolution machten. Am Ende kommt sie zu dem Ergebnis: "Anfang 1848 waren bedeutende Teile der Bevölkerung auf eine Weise politisch mobilisierbar, wie es 1815 noch undenkbar gewesen wäre." (214)

Dass in jedem Kapitel des Buches ausgewählte Forschungsrichtungen aus den Geschichts-, Sozial- und Kulturwissenschaften wie die moderne Nationalismusforschung, Neue Institutionenökonomik oder die jüngere Geschlechtergeschichte zur Sprache kommen, dass darüber hinaus einzelne tonangebende Wissenschaftler der letzten Jahrzehnte und deren bahnbrechenden Studien kurz vorgestellt werden - von Thomas Nipperdeys "Deutscher Geschichte 1800-1866" und Hans-Ulrich Wehlers "Gesellschaftsgeschichte" bis zu Niklas Luhmanns Systemtheorie und Jürgen Habermas' These vom "Strukturwandel der Öffentlichkeit" - und dass damit der derzeitige Stand historischer Forschungsansätze für eine zeitgemäße Erkundung der Epoche widergespiegelt wird und die gesamte Darstellung eine besondere wissenschaftliche Tiefe erhält, gehört zu den größten Verdiensten von Geisthövel. Abgerundet wird der Studienband von mehreren Abbildungen, Tabellen, Karten, einem Datengerüst zu den wichtigsten Ereignissen sowie in diesem Fall noch von einem überschaubaren Anmerkungsapparat, einer angemessenen Quellen- und Literaturauswahl und einem profunden Orts-, Personen- und Sachregister.

Natürlich lässt sich über die Auswahl der in einem Lehrwerk behandelten Themen streiten. Dennoch hätte sich die Rezensentin angesichts der in den letzten Jahren neu aufgestellten Ideen- und Politikgeschichte und der ebenfalls vorangeschrittenen Vormärz-, Exil- und Europaforschung eine stärkere Berücksichtigung der freiheitsliebenden deutschen Geistes- und Kulturelite gewünscht, die nach dem Hambacher Fest von der Metternich'schen Repressionspolitik verfolgt und in die Emigration ins europäische Ausland getrieben wurde. Denn die Bedeutung ihres Wirkens für die Durchsetzung des demokratischen Verfassungsstaates und der modernen Staatsbürgernation in Deutschland wie für die Ausbildung fortschrittlicher Europavisionen, die auf ein friedliches Europa als einem Ensemble demokratischer Staaten abzielten, wird in Politik und Gesellschaft nach wie vor zu wenig beachtet und auch von der Historik immer noch unterschätzt.

Abgesehen von diesen wenigen kritischen Bemerkungen zur inhaltlichen Gestaltung kann man das vorliegende Studienbuch von Alexa Geisthövel guten Gewissens weiterempfehlen: Weil es konzis, klar, anschaulich und ausgewogen die zentralen Themenstränge und Entwicklungslinien der Restaurations- und Vormärzzeit aufarbeitet und darstellt, wirklich gut geschrieben ist und dem Leser eine anregende und zugleich ungemein lehrreiche Lektüre bietet.

Birgit Bublies-Godau