Tobias Weger: "Volkstumskampf" ohne Ende? Sudetendeutsche Organisationen, 1945-1955 (= Die Deutschen und das östliche Europa. Studien und Quellen; Bd. 2), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2008, 635 S., ISBN 978-3-631-57104-0, EUR 97,50
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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In den Debatten der letzten Jahre um die Repräsentation der deutschen Vertriebenen im kulturellen Gedächtnis der Bundesrepublik war von den ehemals so wortstarken Landsmannschaften bemerkenswert wenig zu vernehmen. Im Schatten der PR-Profis des Bundes der Vertriebenen unter Leitung von Erika Steinbach schienen sie kaum noch vorhanden. Dies spiegelt wohl ihren öffentlichen Bedeutungsverlust in den letzten Jahrzehnten wider. Einzig die Sudetendeutsche Landsmannschaft (SL) scheint noch mitgliederstark und organisiert genug, um von sich reden zu machen, so durch ihre Forderung nach Rücknahme der so genannten "Beneš-Dekrete" und ihrer damit verbundenen Ablehnung des EU-Beitritts Tschechiens.
Die Entstehung und Frühgeschichte der sudetendeutschen Vertriebenenorganisationen hat nun Tobias Weger in seiner Oldenburger Dissertation umfassend aufgearbeitet. Das große Verdienst der Studie besteht dabei nicht nur in der detaillierten und gut informierten Darstellung der Entstehung von Strukturen und Machtpositionen, die durch kenntnisreiche Beleuchtung des weiteren Umfelds der SL, von den sudetendeutschen "Gesinnungsgenossenschaften", Wissenschaftsorganisationen und Kulturvereinen bis hin zu Presse und Geschichtspolitik ergänzt wird. Mindestens ebenso wichtig ist der Beitrag, den dies zum Verständnis der heutigen Position der Landsmannschaft und ihres Umfelds darstellt.
Wie Weger überzeugend und faktengesättigt nachweist, standen schon die frühesten sudetendeutschen Vereinigungen in den westlichen Besatzungszonen, wie die im Juli 1945 in München gegründete "Sudetendeutsche Hilfsstelle", unter dem Primat der Fortsetzung sudetendeutscher Traditionen und Organisationen der Zwischenkriegszeit, deren Ausrichtung Weger unter dem Attribut "völkisch" subsumiert. Der Begriff selbst bleibt dabei jedoch, trotz einer versuchten inhaltlichen Abgrenzung (24 f.), bedauerlich unscharf. Weger macht plausibel, dass man ebenso wenig wie bei der jungen Bundesrepublik bei der Entstehung der Vertriebenenverbände von einer "Stunde Null" sprechen kann. Indem er die politische Herkunft und das Vorleben der wesentlichen Akteure der späteren SL ausführlich in die Darstellung miteinbezieht, wird sichtbar, wie stark die alten Netzwerke die Nachkriegsorganisationen prägten. Keineswegs darf man sich diese Gründungsphase als auch nur halbwegs demokratischen Prozess vorstellen, in dessen Verlauf die Mehrheit der vertriebenen Deutschen aus der Ersten Tschechoslowakischen Republik (ČSR) eine eigene Selbstvertretung bestimmt hätte. Vielmehr trafen sich die alten Eliten der sudetendeutschen Bewegung in den Hinterstuben bayrischer und schwäbischer Landgasthöfe, um unter Ausschluss der Öffentlichkeit alte Machtstrukturen in die neue Zeit zu übertragen.
Durch den frühen Start waren so bei den Sudetendeutschen wesentliche Strukturen schon geschaffen, als Flüchtlinge anderer Herkunftsregionen von einer Organisation noch weit entfernt waren. Lediglich die Lizenzierung durch die Alliierten stellte die Beteiligten vor Probleme, die jedoch durch geschicktes Taktieren bald gelöst wurden (dazu z.B. 113). Ein zentraler Akteur war dabei beinahe von Anfang an der ehemalige Vorsitzende der sudetendeutschen "Deutschen Nationalpartei" (DNP), Rudolf Lodgman von Auen (1877-1962). Trotz anfänglich durchaus heterogener Strukturen und paralleler Organisationen war es vor allem Lodgman von Auen, der durch sein Geschick und seinen Einfluss die formale und ideologische Vereinheitlichung der sudetendeutschen Organisationsformen bewerkstelligte. Dabei fand eine bemerkenswerte Verengung auf die erwähnten "völkischen" Positionen statt, denen sich alle unter dem Schirm der SL versammelten Vereinigungen letztlich fügten. Auf diese Weise wurde die in der Zwischenkriegszeit sehr viel pluralere Palette deutscher Positionen in der Tschechoslowakei bei den sudetendeutschen Vertriebenenorganisationen in der Bundesrepublik auf die Perspektive der sudetendeutschen Bewegung reduziert. Auch die sozialdemokratische Seliger-Gemeinde ordnete sich nach Wegers Darstellung diesem Primat des "Völkischen" unter (151). Aufschlussreich ist die harsche Reaktion Lodgmans von Auen selbst auf ganz zaghafte Versuche der Gründung alternativer Organisationen (315-321). Die SL sah sich als Alleinvertretung der "sudetendeutschen Sache" und wachte mit Argusaugen über die Wahrung ihrer Machtposition und ihres Deutungsmonopols. Die Erkenntnis, dass die sudetendeutschen Organisationen in der Bundesrepublik das Spektrum der Deutschen in der Ersten ČSR und die Mehrheit der von dort vertriebenen Deutschen niemals auch nur annähernd repräsentierten, ist so neu nicht, jedoch bisher nicht wirklich im öffentlichen Bewusstsein angelangt.
Wegers Kernthese der Kontinuität von Personen und Positionen, die er auch durchaus zugespitzt darstellt, mag angesichts der immer noch starken Präsenz der SL nicht unbedingt bequem sein, scheint jedoch - auch angesichts der breiten Quellenbasis - durchweg plausibel. Ebenso kenntnisreich analysiert der Autor die präzise und wirkungsvoll gesteuerte Geschichtspolitik und die kollektive Symbolik der SL. Letztere bestand nach einer gewissen Karenzzeit in ganz unverblümter Revitalisierung von NS-Ritualen und -Semiotik, so bei Jugendorganisation oder Pfingsttreffen, gegen die sich jedoch öffentlich kaum Widerspruch regte. Auch wenn auf politischer Ebene die SL letztlich weit hinter den eigenen, beispielsweise territorialen Ansprüchen zurückblieb, gelang es ihr doch, das Geschichtsbild und die Sicht auf die Realität in der ČSR/ČSSR öffentlich in ihrem Sinne mitzubestimmen (542). Wegers Analyse sudetendeutscher Geschichtsbilder und Geschichtspolitik gehört hier unbestritten zum Besten, was zu diesem Thema bisher geschrieben wurde.
Angesichts der Geschichte der Organisationen, deren Strukturen im Wesentlichen noch immer Bestand haben, wird ersichtlich, wieso die SL bis heute die Rolle der Sudetendeutschen Bewegung und der deutschen Bevölkerung insgesamt bei der Zerschlagung der Ersten ČSR nicht aufgearbeitet hat. In Konsequenz werden auch heute noch entsprechende Geschichtsbilder propagiert, beispielsweise zum Münchner Abkommen - weil ihre Gründungsväter und maßgeblichen Akteure eben genau dieser Bewegung entstammten. Man versteht aus dieser Entstehungsgeschichte heraus aber auch die bis heute schwierige Annäherung der Sudetendeutschen an tschechische Positionen und im Gegenzug die manchmal überscharfe Reaktion der tschechischen Seite.
Komplettiert wird die Arbeit durch ein 50-seitiges biografisches Personenregister, das allein schon einen wissenschaftlichen Wert an sich darstellt. Ein Sachregister fehlt leider. Am Rande bemerkt ist es doch erstaunlich, dass diese Grundlagenstudie in einer offenbar eigens geschaffenen Reihe des betreuenden Lehrstuhls erscheint und der Autor sich im Vorwort bei seiner Mutter (!) für einen Druckkostenbeitrag bedankt. Der Mut zu kontroversen Positionen scheint in der Osteuropaforschung mancherorts noch zu fehlen. Es bleibt zu wünschen, dass die Geschichte anderer Vertriebenen-Landsmannschaften in naher Zukunft in ebenso überzeugender Form wissenschaftlich aufgearbeitet wird.
Jutta Faehndrich