Heinke Kalinke / Tobias Weger / Łukasz Bieniasz (Hgg.): Breslau. Freizeit und Konsum (= Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa; Bd. 81), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2021, 313 S., ISBN 978-3-11-070298-9, EUR 59,95
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Die Konsumgeschichte in England und in den USA gehört längst zum etablierten Bestandteil der Geschichts- und Kulturwissenschaften, in Deutschland und in Polen dagegen dient der Konsum meist als eine Ergänzung oder eine Illustration anderer Narrative und wird selten zum selbstständigen historischen Subjekt. Diese Lücke versuchen die Autorinnen und Autoren des vorliegenden Sammelbandes zum Teil zu füllen, indem sie den Konsum am Beispiel der Stadt Breslau vom ausgehenden 18. bis ins 21. Jahrhundert beschreiben. Da der Band aus einer interdisziplinären Zusammenarbeit von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Universität Breslau (Wrocław) und des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa in Oldenburg entstanden ist, leistet er einen interdisziplinären Blick aus germanistischer, ethnologischer, kunsthistorischer und historischer Perspektive.
Die Autorinnen und Autoren verstehen den Konsum als Befriedigung eines Bedarfs, und zwar in Form sowohl einer Ware als auch einer Dienstleistung, Infrastruktur oder Information. Somit versammelt der Band Beiträge zu verschiedenen Aspekten der Konsumgeschichte Breslaus. Dabei geht es vor allem um verschiedene Formen der Freizeitgestaltung, weniger bis kaum hingegen um den Konsum bestimmter Produkte. Nur vereinzelt wird in die Schaufenster und Kaufhäuser geschaut. Die Autorinnen und Autoren blenden auch weitere Aspekte der Konsumgeschichte aus, wie etwa Diskurse und Konsumkritik, alternative Konsummodelle, Mangelkonsum in Kriegs- und Krisenzeiten sowie die Reaktionen der Bevölkerung darauf. Ebenfalls unbeachtet bleiben die Themen Werbung und Medien.
Die versammelten Beiträge zeigen in chronologischer Reihenfolge verschiedene Formen der Freizeitgestaltung in Breslau seit Ende des 18. Jahrhunderts bis in das 21. Jahrhundert hinein. Den Autorinnen und Autoren gelingt es in anschaulicher und übersichtlicher Manier, die Umstrukturierung der Gesellschaft im 18. und 19. Jahrhundert zu zeigen, insbesondere die wachsende Bedeutung des Bürgertums sowie die damit verbundenen Veränderungen beim Reisen, das nicht mehr nur den Adeligen, sondern immer breiteren Gesellschaftsschichten möglich war. An Beispielen wie der Reiseliteratur, deren Anzahl nicht nur stieg, sondern deren Sprache sich auch zunehmend veränderte, wird das wachsende Interesse am Reisen insbesondere der Mittelschicht geschildert. Ebenfalls deutlich wird dieser Umbruch am Beispiel des Theaters. Die Breslauer Theater versuchten Reformprojekte durchzuführen und so ihr Repertoire nicht nur an das bisherige, gut ausgebildete Publikum zu richten, sondern auch einem breiten Publikum zugänglich zu machen. In überzeugender Weise wird dargelegt, dass sich das Theater seit Ende des 18. Jahrhunderts den bürgerlichen Gesellschaftsschichten zu öffnen versuchte und nicht mehr nur Teil der Hochkultur sein wollte. In Hinblick auf die steigende Konkurrenz durch andere Freizeitangebote und durch die zunehmende Abhängigkeit von finanziellem Gewinn erwies sich dieser Prozess alles andere als einfach.
Die Auswahl an alternativen Freizeitangeboten vergrößerte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts enorm, was sich auch in einem deutlichen Rückgang des Publikumsinteresses an ambitioniertem Schauspiel niederschlug. Als Konkurrenz erwies sich jedoch nicht nur das unterhaltsame Puppentheater, sondern auch das Wetter. In der warmen Jahreszeit gewann in Breslau der Zeitvertreib im Freien immer mehr an Bedeutung. Dieser emanzipatorische Prozess der Abschaffung steifer Verhaltensnormen und somit auch traditioneller Freizeitgestaltung, wie etwa Salons oder reine Männergesellschaften, vollzog sich in der Peripherie des Staates, zu der Breslau zählte, später als im Zentrum in Berlin. Aber spätestens Industrialisierung und Urbanisierung führten zu einer Umdeutung der Freizeitgestaltung auch in Breslau. Die Errichtung einer Berghütte im österreichischen Tirol, deren jährliche Besucherzahl bis zum Zweiten Weltkrieg stetig anstieg, durch die Breslauer Sektion des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins (DOeAV) zeigt deutlich, wie sich das entsprechende Interesse auf die freie Natur und auf die Berge fokussierte.
Auch die Entwicklung der Freizeitangebote an Flüssen, mit den immer beliebter werdenden Schifffahrten und Badeanstalten, die ähnlich wie die Parkanlagen um weitere kommerzielle Angebote bereichert wurden (wie etwa einfache Gastronomie), zeigt diesen Prozess deutlich. Erst im Zweiten Weltkrieg brach diese Tendenz ab, auch wenn der Nationalsozialismus die Freizeitaktivitäten zum Teil zu "nationalisieren" versuchte, wie am Beispiel des Lunaparks plausibel gezeigt wird: Er blieb in seiner Struktur zwar erhalten, wurde jedoch in "Schlesiersäle" umbenannt, um den als amerikanisch empfundenen Lunapark an die NS-Ideologie anzupassen.
Leserinnen und Leser, die einen tiefen und abwechslungsreichen Einblick in die sozialen und gesellschaftlichen Umbrüche der Stadt nach dem Zweiten Weltkrieg erwarten, werden jedoch enttäuscht. Nicht nur quantitativ wird der Zeitraum nach 1945 in den Beiträgen eher vernachlässigt. Auch der Fokus bleibt stark auf die Erwähnung der wichtigsten politischen Prozesse begrenzt, etwa den Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg, die Polonisierung der deutschen Stadt, die Verstaatlichung durch das kommunistische Regime sowie auch, nach 1989, die Umstrukturierung zur freien Marktwirtschaft. Die enorme soziale Bedeutung dieser Prozesse für Konsum und Freizeit werden jedoch nicht thematisiert, wodurch der Eindruck entsteht, sie hätten in der Stadt zu keinen nennenswerten Umbrüchen geführt. Zwar mögen die Orte der Freizeit, vom Krieg verschont, die gleichen geblieben sein, aber der komplette Austausch der Bevölkerung und die sich stets verändernde Suche nach der Identität Breslaus seit 1945 bis in die Zeit nach 1989 müssten doch tiefgreifende Spuren hinterlassen haben.
Der Band zeigt somit interessante und neue Einblicke in die Freizeit in der deutschen Stadt Breslau, nicht jedoch im polnischen Wrocław. Dennoch bietet er, auch durch die qualitativ hochwertige Ausgabe mit vielen Abbildungen, eine interessante Einführung in die Konsumgeschichte, die sich auch in topografischer Hinsicht in der Stadt Breslau gut nachvollziehen lässt.
Anna Pelka