Stefan Dicker: Landesbewusstsein und Zeitgeschehen. Studien zur bayerischen Chronistik des 15. Jahrhunderts (= Norm und Struktur. Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und Früher Neuzeit; Bd. 30), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2009, 453 S., ISBN 978-3-412-20103-6, EUR 52,90
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Die Dissertation von Stefan Dicker untersucht auf breiter Quellenbasis die bayerische Chronistik des 15. Jahrhunderts. Während die bisherige Forschung, insbesondere die Arbeiten von Jean-Marie Moeglin, von einer legitimierenden und propagandistischen Funktion der Chroniken ausging, betont Dicker die Bedeutung von "Landesbewusstsein" und "Zeitgeschehen" für die causa scribendi. In zwei Großabschnitten entwickelt und bekräftigt er seine These, wobei der erste der Auseinandersetzung mit den wichtigsten bayerischen Geschichtsschreibern des 15. Jahrhunderts gewidmet ist. Auf Fragen der Biografie und des Werkkatalogs wird dabei ebenso eingegangen wie auf Entstehungsumstände, Intention und Rezipientenkreis der Texte. So kann schon bei Andreas von Regensburg (30-81) gezeigt werden, dass zwar die "Vorstellung Bayerns [...] auf der Kontinuität seiner Fürsten und deren herrschaftlicher Rechte" (78) fußte. Doch habe sich der Verfasser deshalb nicht unkritisch mit den Zielen seines fürstlichen Auftraggebers identifiziert, sondern vielmehr versucht, diesen im Sinne eigener - religiöser - Wertvorstellungen zu beeinflussen. Ähnliches lässt sich auch für Hans Ebran von Wildenberg konstatieren, der zu den wenigen adligen Laien unter den Historiografen des ausgehenden Mittelalters zählt, aber dennoch nicht auf die Perspektive eines "ständischen Geschichtsschreibers" festgelegt werden sollte (82-111). Die Chronik des Ulrich Fuetrer interpretiert Dicker vor dem Hintergrund der literarischen Gestaltungsprinzipien, die das Schaffen dieses vielfältig begabten Malers und Epikers prägten. Sie erklären die ritterliche Heroisierung einzelner Fürsten sehr viel besser, als die Annahme einer politisch-legitimierenden Funktion (112-133). In der Chronik des Veit Arnpeck, der Anregungen der humanistischen Historiografie aufnahm, finden sich schließlich Ansätze einer "Landesgeschichte", die sich weniger stark auf Taten der Fürsten konzentriert. Das "Land" wird verstärkt über geografische und topografische Gegebenheiten bestimmt und immer mehr geraten die Stände als Akteure in den Blick (134-186). Humanistische Einflüsse lassen sich auch bei Veit von Ebersberg finden, dessen 'Chronicon Bavarorum' aber ebenfalls nicht als direkte Auftragsarbeit gelten sollte (186-218). Insgesamt wird deutlich, dass die bayerischen Chronisten des 15. Jahrhunderts nicht die Legitimierung fürstlicher Politik intendierten, sondern vielmehr versuchten, auf diese über historische Werke Einfluss zu nehmen, wobei das "Land" zunehmend als eigenständige Größe dem Handeln der Fürsten entgegenstellt wurde.
Diese anhand einzelner Verfasser entwickelte These wird im zweiten Teil der Studie durch strukturell-übergreifende Überlegungen weiter untermauert. Hier kann Dicker zeigen, dass die in der Forschung viel erörterte Problematik der Erbteilungen für die Chronisten von geringerer Relevanz war, da stets nur Herrschaftsrechte, nicht aber das "Land" geteilt wurde (237-275). Eine Ausnahme bildet allerdings der blutig ausgetragene Landshuter Erbfolgekrieg zu Beginn des 16. Jahrhunderts, durch den die Geschichtsschreiber auch Bayern geschädigt sahen (307-314). Diesem Konflikt, den einige Geschichtsschreiber als "Zeitgeschehen" miterlebt hatten, spricht Dicker eine besondere Bedeutung zu. Schließlich hat er sehr viel mehr zur Formulierung eines bayerischen Landesbewusstseins in der Historiografie um 1500 beigetragen, als der in den Chroniken nur selten zu findende Topos "Haus Bayern", den die moderne Geschichtsforschung üblicherweise in diesem Zusammenhang diskutiert (314-321). An diesen Erbauseinandersetzungen werden auch die Folgen mangelnder dynastischer Kontinuität, deren Aufrechterhaltung in den Geschichtswerken als Aufgabe der Fürsten formuliert wird, für das Land deutlich (361-385). Nicht nur von den Fürsten, auch von den Landständen wurde ein Beitrag zur friedlichen Konfliktlösung verlangt und - beispielsweise in den Auseinandersetzungen zwischen Herzog Albrecht IV. und seinen Brüdern - mit Erfolg geleistet. In der überwiegend positiven Beurteilung der Landstände spiegelt sich deren steigende Bedeutung wider (385-415).
Ein wenig häufen sich in diesem zweiten Teil die Wiederholungen, beispielsweise die Auseinandersetzung mit einer bereits einleitend zitierten Stelle aus der 'Chronica pontificum et imperatorum' des Andreas von Regensburg (15, 69, 288, 324). Die Ausführlichkeit, mit der Werke und Verfasser im ersten Teil vorgestellt werden, hat zwar den Vorteil, eine weniger spezialisierte Leserschaft umfassend in die Materie einzuführen, verwischt aber die Konturen der Argumentation. Etwas irritierend wirkt die durchgängige Versächlichung der domus Bavariae (u.a. 184, 232, 320) oder der salus publica (231).
Insgesamt gelingt es Stefan Dicker aber in überzeugender Weise, neue Wege bei der Interpretation spätmittelalterlicher Geschichtswerke im bayerischen Raum aufzuzeigen. Diese sollten nicht länger als Mittel fürstlicher Propaganda verstanden werden, sondern vielmehr als Versuch, anhand der deutenden Darstellung des "Zeitgeschehens" die intendierten Rezipienten - also den Fürsten und seine Berater - auf den Schutz des Landes Bayern zu verpflichten, was ein entsprechendes "Landesbewusstsein" erkennen lässt.
Georg Strack