Klaus Hermsdorf: Kafka in der DDR. Erinnerungen eines Beteiligten, hrsg. von Gerhard Schneider / Frank Hörnigk, Berlin: Verlag Theater der Zeit 2006, 285 S., ISBN 978-3-934344-93-8, EUR 16,00
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Klaus Hermsdorf (1929-2006), Germanist, Literaturwissenschaftler und Hochschuldozent in der DDR, erlebte die Veröffentlichung seiner Erinnerungen nicht mehr, die als Fragment von Kollegen herausgegeben wurden. Medien und Geschichtsschreibung würdigten sie öffentlich kaum. Der leicht ironische Essay beschreibt persönliche Reifungsprozesse, Blickerweiterungen, Erfolge und Rückschläge in fachlicher Auseinandersetzung, dazugehörige private Begegnungen und politische Kontexte. Er spart Inkonsequenz im Handeln und Hilflosigkeit nicht aus. Unvollendet scheint nur die Struktur der Darreichung.
Im Mittelpunkt stehen Hermsdorfs Studien zu Franz Kafka und deren öffentliche Verwertung bzw. Zensur. Auch der wenig Eingeweihte weiß: "Kafka und sein Werk standen [...] in der DDR über Jahre und Jahrzehnte im Widerspruch zu allem, was für die Gesellschaft offiziell als wertvolles und damit anzueignendes kulturelles Erbe galt" (so die Herausgeber, 273). Gleichwohl gab es eine DDR-spezifische Kafka-Forschung. Dies als einen lebbaren Widerspruch darzustellen, gelingt Hermsdorf gut. Die autobiografische Unterfütterung bereichert die Problematisierung der Zusammenhänge.
Hermsdorf wurde 1954 als Assistent am Germanistischen Institut der Humboldt-Universität eingestellt und auf Kafka aufmerksam. Seinen Plänen "öffnete sich ein Zeitfenster, das die missliche Eigenschaft hatte, im Winde der Entwicklung auf- und zuzuklappen" (11). Wir erfahren, wie "die Voraussetzungs- und Zusammenhanglosigkeit, mit der Kafkas Name kometenhaft am schon fremd gewordenen westlichen Kulturhorizont auftauchte, [...] den Zugang zu seinem Werk [in der DDR] erschwerte" (25) , auch weil er einer Gruppe kommunistischer Intellektueller, die mit dem SED-Herrschaftssystem in Konflikt gerieten, "zum Medium einer antisowjetischen Totalitarismuskritik [...] wurde" (23). Hermsdorf beschreibt hintergründig die Situation am von Alfred Kantorowicz geleiteten Lehrstuhl und in der von Hans Mayer geführten Abteilung am Germanistikinstitut. Die in nationaler Hinsicht vergleichsweise offene Forschungskonstellation regte ihn zu einer Synthese von literatur- und gesellschaftswissenschaftlichen Fragen an, die während eines Studienaufenthalts in Prag wichtige neue Impulse erhielt. "Die beginnende 'Entstalinisierung' gab dem versandeten 'neuen Kurs' unerwarteten Auftrieb und zeitigte besonders im kulturellen und literarischen Leben, unter Philosophen und Historikern affektive Reizungen, neue Erwartungen und gegen den ängstlich auf der Stelle tretenden Parteiapparat opponierende Aktivitäten. [...] Für mich wurde 1956 das Jahr, in dem der Stern Kafkas im Osten aufging [...] als Kürzel und Chiffre, als Name mit zeichenhafter Bedeutung."(57) Denn es markierte "weiße Flecken in dem durch Realismusdefinitionen nicht weniger als durch Parteigenossenschaft, Antifaschismus, Exilschicksal, Volksfront-Kameradschaft und DDR-Bürgerschaft zusammengebackenen Kanon"; es eröffnete zugleich aber auch den Kampf "um die Kunst der 'Moderne', der in der DDR ein Vierteljahrhundert andauerte und kein Kampf um Kunstauffassungen war, sondern um Kulturherrschaft", in dem Kafka "literaturwissenschaftlich ignoriert oder unterbelichtet, literaturkritisch nicht vermittelt und vor allem: nicht gedruckt" wurde (59).
1959 wurde Hermsdorf mit einer Arbeit zu Kafkas Romanfragment "Der Verschollene" promoviert. An der Dissertation habe er wenig Freude gehabt, sie sei ein missglücktes literarisches Experiment gewesen, das gesicherte philologische Substanz enthielt, aber auch "verkürzte und verdrehte Extremitäten" (83). Hermsdorf richtet einen sachlichen Blick auf seine damaligen Ansichten, selten gelingt akademische Selbstkritik so überzeugend. "Die größten Fehler meiner Dissertation waren die vermeidbaren", wozu er die nicht erforderliche und "ungeschickt begründete" Zuordnung von Kafkas Werk zur Dekadenzdichtung zählt. 1961 erschien sein Buch mit dem Romanfragment. Vor dem Hintergrund des "Bitterfelder Weges" durfte Hermsdorf zufolge seine Dissertation erscheinen.
Selbstbewusst nennt er sein Werk die "erste wissenschaftlich begründete Stimme des Ostens" zu Kafka (112) und erklärt, warum er und sein Kollege Helmut Richter, der 1962 über Kafka promovierte und publizierte, 1963 freudig die Einladung tschechischer Kollegen annahmen - und am Ende ratlos sein mussten: Ihnen ging es gar nicht um die philosophische Dimension des Kafka-Erbes, sondern um den kunstkritischen Blick "auf einen zur Ikone gewordenen Dichter" (121), der sie gleichwohl beeindruckte. Dass der Verlag Rütten & Loening ab 1961 eine Kafka-Edition vorbereitete, musste ermutigen. Das "Kafkaeske" der Situation führt Hermsdorf uns gut vor Augen:
Seit Sommer 1961 Lektor an der Prager Karls-Universität und damit öfter in vertrauliche Gespräche mit dem tschechoslowakischen Literaturhistoriker Eduard Goldstücker gezogen, bekam Hermsdorf den frischen kulturpolitischen Wind dort zu spüren. Die Frage der menschlichen Entfremdung in einem krisenhaften sozialen Raum, zugespitzt auf Entfremdung im Sozialismus, zur Hauptfrage einer Kafka-Konferenz zu machen, war dennoch nicht unbedingt zwingend. Die Liblicer Dichterehrung zum 80. Geburtstag Kafkas geriet zu einer "Parteikonferenz", und zwar just zu der Zeit, als man die Kafka-Edition in der DDR schon fast wieder begraben hatte.
Der Mythos der Kafka-Konferenz von Liblice von 1963 - "als dessen eigentlicher Urheber Ernst Fischer gelten muss" (153) - besagt, "die Sprecher der DDR" seien isoliert gewesen. Fischers Tagungsbericht "diente in Ost und West als authentische Quelle, die sie nicht war" (165), und reizte SED-Kulturpolitiker, sich besonders niederträchtig öffentlich zu Liblice zu äußern. Das wiederum und die spätere Ostberliner Schmähung der Kräfte des "Prager Frühlings" verstärkten das dauerhafte Urteil über die "Ostberliner Delegation". Hermsdorf rekonstruiert den Konferenzverlauf und beschreibt seine zwiespältigen Eindrücke. Kafka als Glaubensbekenntnis war den Ostberliner Germanisten nicht abzuringen. Dieser angebliche "stupide Stalinismus der Delegierten aus der Sowjetzone" (Günter Zehm, Die Welt, 19.7.1963) wird ihnen bis heute verübelt. Hermsdorf belässt es aber nicht bei einer Gegendarstellung, sondern analysiert auch zeitnahe ideologiekämpferische Ereignisse im Ostblock, was aus seiner damaligen Prager Perspektive besonders aufschlussreich gelingt. Tragische Gestalt der Geschichte, so Hermsdorf, war Goldstücker.
Die ostdeutsche Kafka-Ausgabe aus "pseudomarxistischem Gezänk heraus[zu]halten" (196), sah Hermsdorf nun als vordringlich an. Nach Berlin zurückgekehrt und nun auch Leiter der Abteilung Neueste deutsche Literatur am Germanistischen Institut, hatte er ab 1964 Anteil an der neuerlichen Vorbereitung einer Edition. Die Lizenzverhandlungen mit dem S. Fischer Verlag und Max Brod gerieten zum "Machtkampf um die wechselseitige Anerkennung oder Verhinderung von Interpretationsmonopolen" (196). Endlich kam Mitte 1965 ein Kafka-Band in den DDR-Buchhandel, dann 1967 das Fragment "Amerika", beides in kleinster Auflage. Eine zweite Kafka-Konferenz in Liblice (November 1965) entzog den "scholastischen Kontroversen" der ersten den Boden (213f.), doch zeitgleich verschlechterte sich das kulturpolitische Klima in der DDR erneut.
Hermsdorf zählte sich zu den 68ern in der DDR, er war Protagonist "neuer Ansätze und Vorstöße" (229). 1968 habilitierte er sich zu Schelmengeschichten bei Thomas Mann. Die Analyse der ostdeutschen Kafka-Forschung hat mit diesem Buch einen guten Anfang gemacht. Zugleich ist ein bemerkenswertes Selbstporträt entstanden, Zeugnis eines Wissenschaftlerdaseins in der DDR. Eine Kurzvita und ein Verzeichnis der Veröffentlichungen Hermsdorfs finden sich im Anhang.
Elke Scherstjanoi