Leonore Ansorg / Bernd Gehrke / Thomas Klein / Danuta Kneipp (Hgg.): "Das Land ist still - noch!". Herrschaftswandel und politische Gegnerschaft in der DDR (1971-1989) (= Zeithistorische Studien; Bd. 40), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2009, 394 S., ISBN 978-3-412-14306-0, EUR 49,90
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Der erste Eindruck mag zu voreiligen Schlüssen führen. Mit seinem Titelbild "Polizeieinsatz während des Straßenmusikfestivals in Leipzig" nimmt der Band auf ein Ereignis Bezug, das exemplarisch für 1989 steht. Doch die knapp vierhundertseitige Aufsatzsammlung ist nicht ein weiterer Beitrag zum Jubiläumsjahr 2009 durch das Potsdamer Zentrum für Zeithistorische Forschungen (ZZF). Tatsächlich geht der Band, dessen Titel - "Das Land ist still - noch!" - sich auf eine Textzeile des von der SED ausgebürgerten Sängers Wolf Biermann bezieht, auf einen 2005 durchgeführten Workshop zurück. In ihrer Einleitung fordern die Herausgeber, die "DDR-Opposition in ihrem Entwicklungs- und Veränderungsprozess während der siebziger und achtziger Jahre [...] in einen Entwicklungsprozess der DDR-Gesellschaft als Ganzes" einzubetten (17). Neben diesem hohen Anspruch ist jedoch kein gesondertes Profil auszumachen, das die Aufsatzsammlung von anderen Veröffentlichungen zur DDR-Widerstands- und Oppositionsgeschichte signifikant abheben würde. Außerdem bieten die Projektverantwortlichen aus Potsdam keine Handwerkzeuge oder Methoden an, mit denen sie ihr Erkenntnisinteresse anders als andere Forscher umzusetzen trachten. All dies schmälert jedoch nicht den Erkenntnisgewinn, den man aus einzelnen Artikeln zu ziehen vermag.
Eingeleitet werden die 15 Beiträge von grundsätzlichen Ausführungen der Herausgeber. Alle sind profunde Zeitzeugen der DDR. Zum Teil als wissenschaftliche Mitarbeiter akademischer Einrichtungen der DDR begaben sie sich als überzeugte Marxisten in Opposition zur SED und nahmen hierfür - wie Thomas Klein - einschneidende Repressalien in Kauf. Auch wenn der von ihnen verfasste Beitrag in seinen Formulierungen mitunter sperrig daherkommt und der eigenständige wissenschaftliche Ansatz vernachlässigt wird, sind die Ausführungen angesichts des biografischen Hintergrunds der Autoren von hohem Interesse.
Der erste Teil der Aufsatzsammlung enthält Beiträge, die sich einzelnen Repressionsinstrumenten des SED-Staates widmen. Annette Weinke beleuchtet in ihrem Beitrag die Strafrechtspolitik und Strafrechtspraxis in der Honecker-Ära; Johannes Raschka erörtert die politischen Hintergründe des Strafvollzugsgesetzes von 1977, und Leonore Ansorg widmet sich den Veränderungen in der Strafvollzugspraxis in den siebziger und achtziger Jahren am Fall der Haftanstalt Brandenburg. Einem repressionsgeschichtlichen Thema ist auch der Aufsatz von Walter Süß zu den Wandlungen der MfS-Repressionstaktik seit Mitte der siebziger Jahre verpflichtet. Formen der innerbetrieblichen Disziplinierung und Auseinandersetzung am Arbeitsplatz stehen demgegenüber im Mittelpunkt der Aufsätze von Danuta Kneipp und von Renate Hürtgen. Den Themenfeldern oppositionell-politischer Artikulationsformen, Gegenöffentlichkeit und Öffentlichkeit wenden sich im Weiteren Bernd Gehrke, Thomas Klein und Reiner Merker zu, letzterer am Beispiel Geras. Henning Pietzsch zeigt am Beispiel der "Weißen Kreise" in Jena den Wandel der Protestformen Ausreisewilliger in den letzten zwei Jahrzehnten der DDR auf, und Ulrich Huemer thematisiert den Umgang der DDR-Opposition mit der MfS-Untersuchungshaft. Eine wertvolle Bereicherung der Diskussion stellt der lesenswerte und aufschlussreiche, vergleichend angelegte Artikel von Tomás Vilímek über tschechoslowakische und DDR-Opposition im Visier der Staatssicherheit beider Länder dar. Die verschiedenen lesenswerten Einzelbeiträge geben dem Sammelband seine Berechtigung und lassen ihn zu einer Bereicherung in den laufenden Diskussionen um Opposition und Widerstand in der DDR werden.
Heraus fällt lediglich Christof Geisels Beitrag "Siegreiche Revolutionäre oder Opfer der Wiedervereinigung"; er passt kaum zum bis dahin ausgebreiteten Programm dieses Buchs. Geisel sieht sich in seiner rein apologetischen Verteidigung nicht der Analyse der Ereignisse der achtziger Jahre verpflichtet, sondern ficht für die von ihm als notwendig erachtete Ehrenrettung linksalternativer ostdeutscher Lebensentwürfe, die einer Unterstützung solcher Art möglicherweise gar nicht bedürfen. Mitunter passen der von Geisel angeführte wissenschaftliche Beleg und das zu Beweisende kaum zueinander: So belegt zum Beispiel die Ablehnung des mitunter ungebührlichen Auftretens eines Teils der ostdeutschen Ausreisenden in der bundesdeutschen Öffentlichkeit nicht die Ablehnung der gesellschaftlichen Verhältnisse in der Bundesrepublik. Enthalten ist in der Kritik vielmehr die Aufforderung, Attitüden, die unter anderem aus der Entbürgerlichung der ostdeutschen Gesellschaft resultieren konnten, beim Eintritt in ein politisch-oppositionelles Engagement zu überwinden und - im Falle der Ausreise - nicht in das Aufnahmeland hinüberzuschleppen.
Christian Halbrock