Alexander von Plato / Tomá Vilímek: Opposition als Lebensform. Dissidenz in der DDR, der ČSSR und in Polen (= Das andere Osteuropa. Dissens in Politik und Gesellschaft, Alternativen in der Kultur (1960er-1980er Jahre); Bd. 2), Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2013, 569 S., ISBN 978-3-643-11183-8, EUR 59,90
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Rainer Eckert: Opposition, Widerstand und Revolution. Widerständiges Verhalten in Leipzig im 19. und 20. Jahrhundert, Halle/Saale: mdv Mitteldeutscher Verlag 2014
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Die vorliegende Arbeit versteht sich als Beitrag zur vergleichenden Zeit- und Kulturgeschichte. Im Fokus steht dabei weniger die Praxis oppositionellen Handelns oder die Frage, wie es den Oppositionellen in ihrem Alltag, im Zusammenleben mit ihren Mitmenschen erging. Vielmehr beschäftigen sich die Autoren vorrangig mit den Diskursen und Debatten, die in den oppositionellen Kreisen geführt wurden. Die Arbeit entstand im Rahmen des Forschungsprojektes "Das andere Osteuropa. Dissens in Politik und Gesellschaft, Alternativen in der Kultur von den 1960er bis 1980er Jahren". Tatsächlich geht es in der zu besprechenden Veröffentlichung nicht nur um Osteuropa. Im Zentrum der Untersuchung stehen mit den tschechischen, slowakischen, polnischen und ostdeutschen Regimekritikern vielmehr Dissidenten aus drei ostmitteleuropäischen Staaten. Im Kern geht es um Diskurse und Diskussionen, die im Zentrum Europas geführt wurden und hier stattfanden. Dies gilt insbesondere für die Diskurse der tschechischen und slowakischen Dissidenten, die sich in diesem Kontext oft nur dechiffrieren lassen. Und auch wenn ostdeutsche Regimekritiker, sofern sie davon erfuhren, aufhorchten, wenn sich sowjetische Dissidenten äußerten, so orientierten sie sich zumeist an der Opposition in der ČSSR, Ungarns oder Polens oder den Protestbewegungen im Westen. Man sah sich mit Osteuropa solidarisch verbunden; das eigentliche Osteuropa blieb aber für die meisten, die sich der betreffenden Szene zugehörig fühlten, weit entfernt.
Alexander von Plato stützt sich in seinem Beitrag, der annähernd die Hälfte des Buches umfasst, auf lebensgeschichtliche, halb offene narrative Interviews. Die Gesprächszusammenfassungen und die darauf aufbauenden Analysen stammen aus zwölf Befragungsprojekten, die von 1987 bis 2010 durchgeführt wurden. Ausgewählt wurden hieraus 31 Gespräche. Starke Beachtung schenkt Alexander von Plato dabei den biografischen Prägungen durch die Familie, die Schule, durch Freunde oder auch durch kulturelle Einflüsse. Aber auch bei der Frage der politischen Willensbildung kommen viele bislang wenig beachtete Aspekte zur Sprache. Aufschlussreich sind so unter anderem die Schilderungen von Jens Reich und die hier enthaltene Aussage, dass auch Abgrenzungsbestrebungen innerhalb der oppositionellen Szene und Aversionen gegen andere Systemgegner eine wichtige Rolle bei der Gründung des Neuen Forums spielten.
Alexander von Plato versucht, die ostdeutsche Opposition in ihrer Breite und Vielfältigkeit darzustellen. Es geht ihm um die "verwirrende Vielfalt" und "Eigenart des Sujets" (20). Dies mag hinreichend Raum für Diskussion bieten. So ließe sich einwenden, dass offen bleibt, wie Opposition hier definiert wird und wer ihr demzufolge aus welchen Gründen zuzurechnen sei. Bei der Lektüre überwiegt der Eindruck, dass es weniger um Opposition als eine Form des Zusammenschlusses geht als vielmehr um eine Einstellung zum SED-Staat, die sich in den persönlichen Ansichten oder dem Lesen verbotener Literatur niederschlug. Von Plato rechnet die "parteiinternen SED-Kritiker" (159) Jörn Schütrumpf und Rainer Land dem oppositionellen Spektrum zu. Auch hierzu wird es unterschiedliche Sichtweisen geben.
In der auf den Interviews aufbauenden Analyse geht er auf eine ganze Bandbreite von Aspekten ein. Hierzu zählen neben der bereits erwähnten biografischen Prägung unter anderem die Probleme der Generationsbildung oder die Haltung der Probanden zum Sozialismus, der deutschen Einheit, aber auch die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und ebenso die Sicht der Befragten auf den sowjetischen Einmarsch in Prag 1968. Eindrucksvoll belegt von Plato, dass sich auch mit Hilfe lebensgeschichtlicher Interviews historische Entwicklungsprozesse rekonstruieren lassen. Die Darstellung - und hier liegt der besondere Verdienst des Beitrages - enthält nicht nur die individuelle Sicht der Befragten; die der Analyse vorangestellten Biografien sind weitaus plastischer als die üblichen Lexikoneinträge und enthalten viele aufschlussreiche Details.
Auch Tomáš Vilímek stellt die Biografien seiner tschechischen und slowakischen Gesprächspartner an den Anfang seines Beitrages. Die Biografien sind von ihrer Anlage her summarisch aufgebaut - anders als bei von Plato, der bereits in den Biografien mit Interviewsequenzen arbeitet - jedoch ebenso interessant und aufschlussreich. Für die Auswahl der Gesprächspartner dienten Vilímek maßgeblich zwei Kriterien: Zum einen "sollten sich" die Akteure "über einen langen Zeitraum an den regimekritischen Aktivitäten beteiligt haben" (280) - anders als bei von Plato, bei dem einzelne Probanden erst im Herbst 1989 tätig wurden und über Jahre "mit der Faust in der Tasche" das Geschehen eher untätig - "in der inneren Emigration" - als Beobachter verfolgten. Zum anderen ging es auch Vilímek darum, die Bandbreite oppositioneller Lebensäußerungen einzufangen. Im Analyseteil zeigt Vilímek am Beispiel von sechs Lebensskizzen tschechoslowakischer Dissidenten den Weg auf, der "in den Dissens" (303) zum Regime führte. Die weiteren Ausführungen, und hier liegt der eigentliche Wert des Beitrages, sind vergleichend aufgebaut und beleuchten exemplarisch anhand von Lebensgeschichten ostdeutscher und tschechoslowakischer Regimegegner, warum diese sich der Opposition angeschlossen hatten: Vilímek benennt die auslösenden Faktoren für ein solches Engagement und untersucht, welche Rolle die Familie, "gesellschaftlich-individuelle" Aspekte (388) oder historische Ereignisse dabei spielten. Anschließend widmet er ein gesondertes Kapitel der Frage, in welcher Form ostdeutsche und tschechoslowakische Dissidenten sich gegenseitig wahrnahmen und welche Folgen dies - vor allem in der DDR - für das Selbstverständnis, Opposition sein zu wollen, hatte.
Im dritten Beitrag beschäftigen sich Piotr Filipkowski und Joanna Wawrzyniak mit den Prägungen, Erinnerungen und den biografischen wie politischen Entwicklungen polnischer Dissidenten. Aufgrund der Vielfalt und Breite der polnischen Oppositionsbewegung entschieden sie sich dafür, den Entwicklungsweg einer bislang kaum wahrgenommenen Gruppe von vorrangig Intellektuellen nachzuzeichnen. Ihre Wahl fiel dabei auf jene Regimekritiker, "die in den 1970er Jahren in Posen in das Erwachsenenleben eingetreten sind" (489) und in jener Zeit ihre Erfahrungen sammelten. Entstanden ist ein äußerst lesenswerter Beitrag, der den Band insgesamt abrundet.
Christian Halbrock