Markus Roth: Herrenmenschen. Die deutschen Kreishauptleute im besetzten Polen - Karrierewege, Herrschaftspraxis und Nachgeschichte (= Beiträge zur Geschichte des 20. Jahrhunderts; Bd. 9), 2. Auflage, Göttingen: Wallstein 2009, 556 S., ISBN 978-3-8353-0477-2, EUR 39,00
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Das im Zweiten Weltkrieg besetzte Polen hat in den letzten Jahren beachtliches Interesse in der deutschen Geschichtswissenschaft gefunden, wobei mittlerweile besonders zu dem "Generalgouvernement" genannten Territorium beeindruckende Regionalstudien vorliegen. Markus Roth wählt nun erstmals einen biografischen Ansatz, der die lokalen Verwaltungsleiter des ganzen Generalgouvernements in den Blick nimmt. Den Kreis- und Stadthauptleuten, die einem Gebiet vorstanden, das in etwa einem deutschen Landkreis entsprach, kam für die Umsetzung der nationalsozialistischen Okkupationspolitik eine Schlüsselrolle zu. Vor diesem Hintergrund untersucht Roth Wirken und Werdegang der Besatzungsfunktionäre vor, während und nach dem Krieg.
Mit der Methodik der Täterforschung werden in der Studie wichtige neue Erkenntnisse zu den Ursachen der deutschen Verbrechen im Osten herausgearbeitet. Bemerkenswerterweise war die Gruppe der Kreishauptleute, trotz einer teilweise gemeinsamen generationellen Prägung und trotz Ähnlichkeiten bei Herkunft und Bildung, nur oberflächlich eine auch ideologisch homogene Gruppe, da nicht wenige ihrer Angehörigen in den 1930er Jahren in Konflikt mit der NSDAP gerieten. Doch das stand einer Ernennung zum Kreishauptmann nicht im Wege, sodass von einem nationalsozialistischen Auswahlkriterium im engeren Sinne keine Rede sein konnte. Gleichwohl "bewährten" sich die Männer im Amt, sie entsprachen den Erwartungen, die die Regierung des Generalgouvernements unter Hans Frank an sie hatte.
Die Studie belegt in drei großen Kapiteln die Verbrechen der deutschen Administration in Polen. Roth zeigt die entscheidende Rolle der Verwaltungsleiter bei der Deportation von Arbeitskräften ins Reich, bei der Ausbeutung der Landwirtschaft und bei der Verfolgung und Ermordung der Juden. Hierbei greift er ebenso souverän auf die deutsche und polnische Literatur wie auf umfangreiche eigene Archivstudien zurück, wobei die komplexen Anforderungen einer Gruppenbiografie schon alleine durch die Anzahl von 63 konsultierten Archiven und sieben weiteren Privatnachlässen verdeutlicht werden. Als zentrales Ergebnis dieser wissenschaftlichen Mühen präsentiert Roth einen neuen Erklärungsansatz für die Frage, warum die Besatzer im Osten so brutal agierten: Die radikale Praxis entstand eben nicht wegen biografischer Spezifika, sondern aus einer Kombination intentionaler und situativer Momente.
Nachdem die Täterforschung sich viel zu lange auf meist monokausale, vorkriegsbiografische Erklärungsmomente für verbrecherisches Handeln beschränkt hatte, wird hier in überzeugender Weise ein ganzes Bündel von Ursachen benannt, etwa die Wettbewerbssituation innerhalb der Gruppe, historisches Sendungsbewusstsein, Kulturschockerfahrungen, große Handlungsspielräume, das Besatzermilieu und die Kriegssituation, die alle zusammen eine moralische Legitimation für radikale Politik darstellten. Die individuellen Rechtfertigungen und Handlungsspielräume werden exemplarisch anhand einzelner Kreishauptleute gezeigt - und dennoch hätte man sich manchmal eine genauere Darstellung gewünscht, gerade wenn es um die Selbst- und Fremdwahrnehmungen des Besatzerdaseins im Osten geht.
Doch dieser kleine Kritikpunkt mindert den Wert der Arbeit umso weniger, als Roth zur Ausleuchtung der Motivation der Kreishauptleute auch deren Leben nach der Niederlage NS-Deutschlands und in der Bundesrepublik untersucht. Insgesamt liegen für zwei Drittel der Überlebenden Informationen über ihre Nachkriegskarriere vor, gegen die Hälfte wurden auch Justizermittlungen durchgeführt. Angesichts der mittlerweile vorliegenden Untersuchungen zu den oftmals erfolglosen Bemühungen um Strafverfolgung kann es nicht überraschen, dass nur gegen einen einzigen Kreishauptmann überhaupt Anklage erhoben wurde, freilich ohne dass es zu einer Verurteilung gekommen wäre.
Es gelang fast allen Männern, über kurz oder lang in den öffentlichen Dienst zurückzukehren, wo sie besonders in der Verwaltung, aber auch in der Verwaltungs- und Sozialgerichtsbarkeit tätig wurden. Die Untersuchung der Nachkriegskarrieren ermöglicht es, die Selbstdeutungen der Verwaltungsmänner zu erfassen. Ihre Netzwerke unter Federführung von Ludwig Losacker, dem ehemaligen Distriktgouverneur von Krakau und Leiter der Inneren Verwaltung des Generalgouvernements, erlaubten eine Darstellung der eigenen Tätigkeit nach außen hin, die dem Selbstbild weitgehend entsprach. Den Kreishauptleuten gelang es, sich als Kämpfer gegen die SS-Willkür zu stilisieren, sodass es mit Hans-Adolf Asbach sogar einer von ihnen zum "entlasteten" Minister des BHE in Schleswig-Holstein bringen konnte - bezeichnenderweise mit einer Zuständigkeit nicht nur für Vertriebene und Soziales, sondern auch für Arbeit, was angesichts der Organisation der Zwangsarbeiterdeportationen durch die Zivilverwaltung geradezu zynisch wirkt. Doch im Unterschied zu anderen NS-Eliten stellte die Vergangenheit wegen der erfolgreichen Verbreitung der eigenen Geschichtsinterpretation eben keine Bedrohung für die ehemaligen Kreishauptleute dar, und auch der Kontakt zu den ehemaligen Kollegen brach nicht ab, sondern wurde geradezu gesucht.
Insgesamt bietet Markus Roths bei Norbert Frei in Jena abgeschlossene Dissertation ein eindrucksvolles Bild einer bislang kaum untersuchten Tätergruppe, das zudem durch seinen Materialreichtum besticht - so sind die Kreishauptleute in einem fast 60-seitigen Anhang auch einzeln porträtiert. Die gekonnte Verknüpfung von biografischen und faktischen Fragestellungen, die auf einer umfassenden Quellen- und Literaturgrundlage beruht, erbringt wegweisende Erkenntnisse zu den deutschen Verbrechen in Polen; darüber hinaus zeigt Roth exemplarisch, wie nationalsozialistische Netzwerke in der Bundesrepublik weiter bestanden und eine straffreie Integration in die Nachkriegsgesellschaft ermöglichten. Die zugleich zu einem erheblichen Teil von ihnen selbst etablierten Deutungsmuster, die angebliche Antagonismen von Verwaltung und SS im Kriege hervorhoben, blieben bis Anfang der 1990er Jahre bestehen.
Stephan Lehnstaedt