Rezension über:

Felix Lenz: Sergej Eisenstein: Montagezeit. Rhythmus, Formdramaturgie, Pathos, München: Wilhelm Fink 2008, 429 S., ISBN 978-3-7705-4680-0, EUR 49,90
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Rezension von:
Henning Engelke
Kunstgeschichtliches Institut, Goethe-Universität, Frankfurt/M.
Redaktionelle Betreuung:
Olaf Peters
Empfohlene Zitierweise:
Henning Engelke: Rezension von: Felix Lenz: Sergej Eisenstein: Montagezeit. Rhythmus, Formdramaturgie, Pathos, München: Wilhelm Fink 2008, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 2 [15.02.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/02/15670.html


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Felix Lenz: Sergej Eisenstein: Montagezeit

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Kein anderer Filmregisseur hinterließ eine so umfangreiche theoretische Auseinandersetzung mit dem eigenen Werk wie Sergei Eisenstein. Von den frühen 1920er-Jahren bis zu seinem Tod im Jahr 1948 unterzog Eisenstein seine Filme einer beständigen kritischen Betrachtung, in der er ältere Positionen unter dem Eindruck neu auftretender formaler und inhaltlicher Problemstellungen immer wieder erweiterte und revidierte. Mit ihrer an naturwissenschaftlichen und philosophischen Sprachgebrauch angelehnten Begrifflichkeit erwecken die Schriften den Eindruck streng systematischer Analysen. Doch zugleich offenbaren sich in der Entwicklung von Eisensteins Thesen zahlreiche Widersprüche und Inkonsistenzen. Entsprechend herrscht in der Forschung die Ansicht vor, dass Eisensteins Theorie ebenso wie sein filmisches Werk vor allem durch Brüche gekennzeichnet ist und sich uneinheitlich entwickelte. Der bedeutsamste Einschnitt wird allgemein um 1930 angesetzt und fällt mit der zunehmenden totalitären Verengung der postrevolutionären Ästhetik in der stalinistischen Kulturpolitik, dem Übergang vom Stumm- zum Tonfilm sowie mit Eisensteins Aufenthalt in den USA und Mexiko zusammen.

Vor allem in der französischen Forschungsliteratur gab es allerdings schon früh Stimmen, die von einem verbindenden Grundkonzept hinter den vielfältigen Erscheinungsformen und Formulierungen ausgingen. Felix Lenz schließt sich in "Sergej Eisenstein: Montagezeit" dieser Position an und spitzt sie noch zu. Er argumentiert, dass es ein grundlegendes, vereinheitlichendes Prinzip von Eisensteins Werken gibt, das in ihrer spezifischen Überformung filmischer Zeit besteht: "Im abstraktesten gemeinsamen Nenner aller Filmgestaltung, der Zeitkontur, läßt sich so der Zusammenhang aller gestalterischen Lösungen Eisensteins von Streik (1924) bis zu Iwan der Schreckliche (1941-46) offenlegen." (14) Damit wendet er sich zugleich gegen die Deutung Eisenstein'scher Montagekonzepte aus einer semiotischen Perspektive, die er auf das "Phantasma der intellektuellen Montage" (14) zurückführt. Während die semiotischen Deutungen vom semantischen Kontrast der Bildinhalte ausgehen, stellt Lenz die kinästhetische Dynamik der Filmgestaltung ins Zentrum. Das zentrale Element seiner These bildet die biomechanische Ausdrucksgeste, die Eisenstein erstmals in einem 1923 gemeinsam mit Sergej Tretjakow verfassten Artikel in Zusammenhang mit der Schauspielführung im Theater erläutert. Das auf gestischen Körperbewegungen beruhende biomechanische Prinzip soll auf der Bühne wie auch im Film die Einfühlung des Zuschauers gewährleisten. In der Filmmontage wird die dialektische Beziehung von Bewegung und Gegenbewegung zum beherrschenden Muster, das zugleich etablierte Konventionen räumlicher Kontinuität aufbricht. Die bildliche Diskontinuität der Gegenbewegungsmuster verlagert "Kontinuität in die Körpermimesis des Zuschauers" (38) und steigert sich in einer intensivierten Sequenz zur pathetischen Wirkung.

Aus dieser Perspektive erscheint Eisensteins Werkentwicklung als eine kontinuierliche Beschäftigung mit Problemen der zeitlichen Gestaltung des filmischen Materials. Führte in Streik (1924) die Abfolge von kontrastiven Attraktionsmomenten noch in eine bloße Reihung, so gelingt es Eisenstein in Panzerkreuzer Potemkin (1925), die Abfolge durch genau gesetzte Zäsuren zu rhythmisieren und damit ihre Wirkung zu steigern: Der übergreifende Rhythmus des Films evoziert körpermimetisch ein dreimaliges Ein- und Ausatmen. Semantische Aspekte der Bilder sind, Lenz zufolge, in dieser kinästhetischen Zeitgestaltung aufgehoben.

Das abstrakte dynamische Prinzip bietet zugleich so etwas wie einen Maßstab, an dem Gelingen oder Scheitern filmischer Gestaltung ablesbar werden sollen. So wertet Lenz, der sich wiederum auf Eisensteins nachträgliche Unzufriedenheit mit diesen Werken berufen kann, Oktober (1927/28) und Alexander Newski (1938) als letztlich fehlgeschlagene Versuche, das Konzept der Zeitgestaltung der jeweiligen Aufgabe entsprechend auszuformen und zu erweitern. Lenz geht kurz darauf ein, dass die Schwierigkeiten von Oktober und Alexander Newski auch auf widrige äußere Umstände zurückgehen könnten - die strengen politischen Vorgaben für einen Film über den zehnten Jahrestag der Oktoberrevolution und Eisensteins höchst bedrohliche Situation während des stalinistischen Terrors zur Entstehungszeit von Alexander Newski -, doch konzentriert sich seine Analyse weitestgehend auf die formale Systematik der Filme.

Anders als diese beiden Filme findet der zweiteilige Iwan der Schreckliche (1941-1944, 1943-1946) zu einer im Sinn der biomechanischen Prinzipien wirkungsvollen Zeitgestaltung zurück. Aus dieser Sicht erscheint Iwan der Schreckliche als ein komplementäres Gegenstück zu Panzerkreuzer Potemkin. Die im früheren Film immer wieder aufgerufene Geste des Erwachens, der Auferstehung wird hier in eine Geste der Einengung und des Absterbens verkehrt. Lenz suggeriert in diesem Zusammenhang eine biografische Parallele zum herzkranken, sich bei der Produktion des Films mit tödlichen Folgen überarbeitenden Eisenstein. Diese Parallelität von Kunst und Leben steht in Einklang mit der kunsttheoretischen Prämisse der Untersuchung, die davon ausgeht, dass die Rhythmen der Filme und die analog zum Goldenen Schnitt zeitlich gesetzten Zäsuren eine Resonanz in der Welterfahrung der Zuschauer finden und ein "Gefühl der Verschmelzung mit dem Gang der Welt" (386) aufrufen. Daraus ergibt sich für Lenz eine Dimension von Eisensteins Werk, die über ideologische Manipulation nicht nur hinausgeht, sondern diese konterkariert: "Es gibt einen Zusammenhang aller unzureichenden Darstellungsversuche. Das Gefühl des einen Gesetzes, das alles durchdringt, ist nicht faßbar, nicht formulierbar, nur erlebbar." (396)

Mit großer Sachkenntnis setzt Lenz Eisensteins Filme und dessen theoretische Schriften zueinander in Beziehung. "Eisenstein: Montagezeit" bietet darüber hinaus eine Reihe überaus detailreicher und differenzierter Filmanalysen, die die Gestaltungsformen der Filme und die Paradoxien von Innovation und Traditionsbezug in der Bildverwendung erschließen. Gelegentlich hätten Analyse und Interpretation stärker verknüpft werden können, um unnötige Wiederholungen zu vermeiden. Eine etwas größere kritische Distanz zu Eisensteins Begrifflichkeit ("gestalterische Zündkapseln", "Ausdrucksexplosionen", "Energie", "Intensität", "Amplituden") ebenso wie eine über die kurze Zusammenfassung in der Einleitung hinausgehende Auseinandersetzung mit der Forschungsliteratur wären ebenfalls wünschenswert gewesen. Problematischer erscheint jedoch die zentrale These des zugrunde liegenden einheitlichen Prinzips. Damit werden Eisensteins ästhetische Lösungen auf ein metaphysisches (und normatives) Kunstkonzept reduziert, das die historischen und ideologischen Verwerfungen, innerhalb derer sich Eisensteins Arbeit vollzog, allenfalls als Hindernisse der freien Entfaltung in den Blick nimmt. Die potenzielle Offenheit der Werke - denen Eisenstein selbst sich nicht zufällig mit immer neuen Metaphern und Beschreibungsmodellen näherte - verengt sich auf eine idealistische Erklärung, die die Kunst in letzter Konsequenz aus ihren historischen Bezügen herauslöst und die eigenen, ideologisch bestimmten Voraussetzungen durch deren Charakterisierung als natürlich gegebenen Rhythmus der "Weltentwicklung" der kritischen Reflektion entzieht. Festzuhalten ist allerdings auch, dass "Eisenstein: Montagezeit" mit der Analyse der Dynamik von Eisensteins Montage einen für sich genommen vielversprechenden Forschungsansatz verfolgt, der nicht zuletzt als Gegenwicht zu den lange Zeit vorherrschenden zeichentheoretischen Interpretationen von Bedeutung ist.

Henning Engelke