Stefanie Dick: Der Mythos vom "germanischen" Königtum. Studien zur Herrschaftsorganisation bei den germanischen Barbaren bis zum Beginn der Völkerwanderungszeit (= Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde; Bd. 60), Berlin: De Gruyter 2008, VIII + 262 S., ISBN 978-3-11-020034-8, EUR 78,00
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Die Relevanz der Fragestellung, ob es in der Antike ein "germanisches" Königtum gegeben habe oder nicht, ergibt sich forschungsgeschichtlich vor allem daraus, dass die mittelalterliche Verfassungsgeschichtsschreibung seit dem 19. Jahrhundert lange Traditionsketten zu konstruieren pflegte (und dies gelegentlich sogar noch heute tut), die man als Teil der eigenen Nationsgeschichte vom für germanisch gehaltenen Mittelalter bis hin zum "frühen germanischen Königtum" zurückverfolgte.
Die vorzustellende Dissertation, eine mediävistische Arbeit mit zeitlichem Schwerpunkt in der Antike, ordnet sich ihrerseits in eine gegenläufige Traditionskette ein. Diese zielt darauf, die Eignung der Bezeichnung "germanisch" als Sammelkategorie zur Wesensbeschreibung politischer, sozialer, rechtlicher, kultureller und anderer Eigenheiten germanisch sprechender Völkerschaften systematisch in Frage zu stellen. Nachdem so mittlerweile der antike Germanenbegriff als Konstrukt antiker ethnographischer Diskurse enttarnt worden ist [1], die unterschiedlichen Germanenbegriffe der beteiligten Forschungsdisziplinen herausgearbeitet worden sind [2] und "Germanisch" als Ordnungsbegriff zur Wesensbestimmung von Eigenheiten frühmittelalterlicher Staatlichkeit unter Beschuss genommen worden ist [3], wird inzwischen sogar ganz offen und allgemein seine Abschaffung gefordert [4]. Eine kritische Überprüfung der Vorstellung von einem "germanischen" Königtum als Forschungskonstrukt stand also gewissermaßen noch aus [5] - zumal die Annahme eines "germanischen Sakralkönigtums" bereits ins Reich wissenschaftlicher Mythenbildung verwiesen worden war.[6] Diese Aufgabe wird in der Untersuchung von Stefanie Dick in umfassender Weise geleistet, so dass ihre Darstellung in dieser Hinsicht auch einen gewissen Schlusspunkt der beschriebenen Forschungstendenz markiert.
Dazu arbeitet Stefanie Dick zunächst forschungsgeschichtlich den Germanenbegriff und das Konstrukt eines "germanischen Königtums" (O. Höfler, W. Schlesinger, R. Wenskus) auf (11-42), um danach die einschlägigen Passagen bei Caesar und Tacitus einer erneuten Lektüre vor dem Hintergrund jüngerer philologischer und literarhistorischer Forschungen zu unterziehen (43-103) - mit dem Ergebnis, dass sich ein genuin germanisches Königtum darin nicht nachweisen lasse. Ausführlich erörtert sie sodann die Aussagemöglichkeiten von Archäologie und Sprachwissenschaft (105-157), betont dabei die Blässe des älteren volkssprachlichen "Anführervokabulars" (gotisch thiudans und reiks, althochdeutsch truhtin) gegenüber der erst seit dem 7. Jahrhundert belegten althochdeutschen Bezeichnung kuning und nimmt das im archäologischen Befund dokumentierte vergleichsweise geringe Ausmaß sozialer Differenzierung als Indiz für das Fehlen eines "Königtums" in Anspruch. Soziale Differenzierungsprozesse bei den germanischsprechenden gentes im Zeitraum zwischen dem 1. und 4. nachchristlichen Jahrhundert (159-202) führt Dick, weil diese sich nicht mit wirtschaftlichen Intensivierungsprozessen korrelieren ließen, auf den Einfluss der römischen Germanienpolitik zurück, vor allem auf Grenzverteidigung, die Stellung von Auxiliartruppen, Handelsvergünstigungen, Verträge und anderes mehr. Die gentile Eliten- und Gefolgschaftsbildung versteht sie dabei gegenüber statisch-zeitlosen Vorstellungen von Gefolgschaft, wie Tacitus sie zu vermitteln suchte, in ihrer Prozesshaftigkeit, betont zugleich jedoch deren begrenztes Entwicklungspotenzial hin zu einem institutionalisierten Königtum: "Die Stellung, der Rang und die Einflussmöglichkeiten bzw. das Machtpotential eines solchen Anführers waren aufgrund der gegebenen Bedingungen stets von Konkurrenz bedroht, in hohem Maße erfolgsabhängig und damit nur sehr eingeschränkt stabil" (200).
Das analytische und darstellerische Hauptproblem der Untersuchung liegt darin, dass sie, wie Stefanie Dick einleitend reflektiert (7), letztlich in zwei scheinbar gegensätzliche Richtungen argumentieren muss, wenn sie einmal den Befund eines "germanischen" Königtums zu dekonstruieren sucht, gleichzeitig jedoch eine konstruktive Erklärung dafür liefern muss, warum verschiedene Völkerschaften, die ihrer sprachlichen Zuordnung nach "Germanen" waren, dennoch Herrscher besaßen, die in der lateinischen Überlieferung als "Könige" (reges) bezeichnet wurden. Aus diesem Grund ist es folgerichtig, wenn Dick auf eine politologische bzw. soziologische Definition dessen, was unter "Königtum" verstanden werden soll, verzichtet hat und stattdessen die Quellenbegrifflichkeit und das soziale Differenzierungspotenzial "germanischsprechender" Gesellschaften in den Blickpunkt rückt. Was den "konstruktiven" Teil der Untersuchung angeht, so knüpft er an Forschungen zum römischen Klientelkönigtum und zur römischen Außenpolitik an.[7] So interpretiert Dick den bei Caesar und Tacitus für germanische Fürsten gebrauchten rex- bzw. rex atque amicus-Titel im Anschluss an D. Timpe[8] als "Bestandteil des völkerrechtlichen Instrumentariums, auf dessen Grundlage das Imperium Romanum seine außenpolitischen Beziehungen gestaltete" (72), weshalb "die meisten der als reges bezeichneten germanischen Anführer [...] ihren Königstitel ursprünglich aus römischer Vollmacht bezogen haben" (103). Es besitzt daher große Plausibilität, wenn die Argumentation abschließend in der Frage gipfelt, was die Römer bezweckten und erreichten, wenn sie einem barbarischen Anführer den Titel eines rex verliehen (203-209). Im Rückgriff auf einschlägige althistorische Studien zur römischen Außenpolitik und zum römischen Völkerrecht betont Dick, dass die Verleihung des Königstitels aus römischer Sicht überhaupt erst eine rechtlich wahrnehmbare Institution schaffen sollte, die sich - überspitzt - "vor allem an den Bedürfnissen römischer Außenpolitik, nicht aber an den soziopolitischen Verhältnissen innerhalb der barbarischen Gesellschaften orientiert" habe (213). Hier liege der eigentliche Ausgangspunkt für Institutionalisierungsprozesse.
Die Studie von Stefanie Dick imponiert durch ihre stringente, zielorientierte Argumentation und durch die breite Heranziehung der geschichtswissenschaftlichen - althistorischen wie mediävistischen - sowie der archäologischen und philologischen Forschungsliteratur, die ebenso umsichtig wie überzeugend in eine Synthese eingebunden wird. Aufgrund dessen gelingt es der Verfasserin, in einem viel beackerten und kontroversen Feld, in dem fast alles schon einmal gesagt, behauptet und bestritten worden ist, eine konsistent begründete Perspektivenverschiebung zu postulieren, die den Folgenreichtum der römischen Grenz- und Außenpolitik für die sich jenseits der Grenze abspielenden Formierungs- und Institutionalisierungsprozesse ins Zentrum rückt. Dem ist aus Sicht des Rezensenten auch für die Folgezeit nur nachdrücklich zuzustimmen, denn die von Dick abschließend angedeutete Perspektive auf die ethnischen und politischen Formierungsprozesse im spätantiken Westen findet im Osten des römischen Imperium ihr eindrucksvolles Pendant. Als Justinian im Jahr 529 angesichts der militärischen Erfolglosigkeit gegenüber den Persern und ihren Verbündeten im Rahmen einer Neuorganisation der Diözese Oriens den ghassanidischen Phylarchen al-Hārith, wie Prokop berichtet, als "Herrscher über die Sarazenen in Arabien an die Spitze möglichst vieler Stämme stellte und ihm die Königswürde verlieh" [9], war dies ein für die vorislamische Ethnogenese der Araber in seiner Bedeutung kaum zu überschätzendes Faktum.
Anmerkungen:
[1] Allan A. Lund: Die ersten Germanen. Ethnizität und Ethnogenese, Heidelberg 1998. Dazu meine Besprechung in Gnomon 73 (2001), 325-328.
[2] Rolf Hachmann: Der Begriff des Germanischen, in: Jahrbuch für interdisziplinäre Germanistik 7 (1975), 113-144.
[3] Exemplarisch Karl Kroeschell: Germanisches Recht als Forschungsproblem, in: Ders. (Hg.): Festschrift für Hans Thieme zu seinem 80. Geburtstag, Sigmaringen 1986, 3-19 [wieder abgedruckt in: Ders.: Studien zum frühen und mittelalterlichen deutschen Recht, Berlin 1995, 65-88].
[4] Jörg Jarnut: Germanisch. Plädoyer für die Abschaffung eines obsoleten Zentralbegriffes der Frühmittelalterforschung, in: Walter Pohl (Hg.): Die Suche nach den Ursprüngen. Von der Bedeutung des frühen Mittelalters, Wien [u. a.] 2004, 107-113; Walter Pohl: Vom Nutzen des Germanenbegriffs zwischen Antike und Mittelalter: Eine forschungsgeschichtliche Perspektive, in: Dieter Hägermann / Wolfgang Haubrichs / Jörg Jarnut (Hgg.): Akkulturation. Probleme der germanisch-romanischen Kultursynthese in Spätantike und frühem Mittelalter, Berlin [u. a.] 2004, 18-34.
[5] Zuletzt hierzu Herwig Wolfram: Frühes Königtum, in: Franz-Reiner Erkens (Hg.): Das frühmittelalterliche Königtum. Ideelle und religiöse Grundlagen, Berlin [u. a.] 2005, 42-64.
[6] Eve Picard: Germanisches Sakralkönigtum? Quellenkritische Studien zur Germania des Tacitus und zur altnordischen Überlieferung, Heidelberg 1991. Vgl. zu diesem Problem auch meine Besprechung des in Anm. 5 genannten Sammelbandes, online unter http://www.sehepunkte.de/2007/03/10695.html.
[7] David Braund: Rome and the Friendly King. The Character of the Client Kingship, London [u. a.] 1984; zur Spätantike vgl. auch Peter Heather: The Late Roman Art of Client Management: Imperial Defence in the Fourth Century West, in: Walter Pohl / Ian Wood / Helmut Reimitz (eds.): The Transformation of Frontiers. From Late Antiquity to the Carolingians, Leiden [u. a.], 15-68.
[8] Dieter Timpe: Rechtsformen der römischen Außenpolitik bei Caesar, in: Chiron 2 (1972), 277-295.
[9] Prokop, Bellum Persicum lib. I, cap. 17, 45-47.
Stefan Esders