Rezension über:

Jörg Requate (Hg.): Das 19. Jahrhundert als Mediengesellschaft (= Ateliers des Deutschen Historischen Instituts Paris; Bd. 4), München: Oldenbourg 2009, 195 S., ISBN 978-3-486-59140-8, EUR 24,80
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Rezension von:
Torsten Riotte
Historisches Seminar, Goethe-Universität, Frankfurt/M.
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Torsten Riotte: Rezension von: Jörg Requate (Hg.): Das 19. Jahrhundert als Mediengesellschaft, München: Oldenbourg 2009, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 4 [15.04.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/04/16613.html


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Jörg Requate (Hg.): Das 19. Jahrhundert als Mediengesellschaft

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Unter dem Titel "Ateliers" veröffentlicht das Deutsche Historische Institut Paris seit 2007 Tagungsbände, die Veranstaltungen des Instituts dokumentieren. So geht auch die hier zu besprechende Publikation auf eine Tagung in Paris im Juni 2007 zurück. In 14 Beiträgen wird das 19. Jahrhundert als Mediengesellschaft diskutiert. Nach einer kurzen Einleitung des Herausgebers folgen fünf inhaltlich strukturierte Abschnitte, die jeweils zwei bis vier Beiträge umfassen. Zunächst werden konzeptionelle Fragen der Mediengesellschaft des 19. Jahrhunderts behandelt. Es folgen Aufsätze zur "Presse als Medium gesellschaftlicher Selbstorganisation" und zu "Alltäglichen Sensationen". Die beiden letzen Abschnitte behandeln die Themen "Skandalisierung" und "Visualisierung". Ein Personenregister und ein für Forschende sehr nützliches Medienregister runden den Band ab.

Wie Jörg Requate in seiner Einleitung darlegt, wird das 19. Jahrhundert als eine "Phase des Übergangs zwischen den medial-kommunikativen Bedingungen des 18. Jahrhunderts und der voll ausgeprägten medialen Moderne des 20. Jahrhunderts" (10) verstanden. Mit Bezug auf Otfried Jarren führt Requate neben der quantitativen Ausbreitung der publizistischen Medien neue Medienformen, neue Formen der Vermittlung, die gesellschaftliche Durchdringung und die gesellschaftliche Aufmerksamkeit und Anerkennung als zentrale Punkte einer Mediengesellschaft an.

Marie-Ève Thérenty greift die Frage nach den Charakteristika einer Mediengesellschaft, die sie von einer Gesellschaft der Massenmedien differenziert, auf. Zwar geht es vordergründig um eine mögliche Datierung des Beginns der Mediengesellschaft, den Thérenty in der Veröffentlichung mit ihrem Kollegen Vaillant auf das Jahr 1836 festgelegt hatte, doch verdeutlicht sie als eines der wichtigen Charakteristika der Mediengesellschaft das Aufkommen einer neue Form der Reflexion über die gesellschaftliche Bedeutung der Medien.

Auch Jörg Requate identifiziert in seinem Kapitel zu Kennzeichen der deutschen Mediengesellschaft nicht nur neue Kommunikationsmodi, sondern auch eine Veränderung der gesellschaftlichen Kommunikation insgesamt. Nach einem kurzen Abriss zu den rechtlichen Bedingungen der Presse problematisiert er den Zusammenhang zwischen Zivilgesellschaft und Presse. Requate sieht die Presse außerdem als Konsumgut und diskutiert das ambivalente Verhältnis zwischen Befriedigung und Schaffung von Lese-, bzw. Konsumbedürfnissen.

Auch Christian Delporte betont die kommerziellen Aspekte einer Mediengesellschaft. Auf die Frage, welche Ziele die Pressefreiheit in der Dritten Republik seit der Gesetzgebung von 1881 verfolgt, findet er die beiden Antworten Bildung ("education") und Markt ("marché"). Delporte sieht die Rolle der Medien nicht allein in der Möglichkeit, den Wissenshorizont zu erweitern, sondern auch in der medialen Durchdringung des Alltags. So öffne die Nachrichtenpresse ein Fenster in die Welt und ein Fenster in den "eigenen Garten" ("l'une sur le monde, l'autre sur son jardin").

Thorsten Gudewitz untersucht die Schillerfeiern von 1859, um die raumüberwindende und kommunikativ-vernetzende Funktion (57) der Presse deutlich zu machen. Gudewitz zeigt die Dynamiken, die sich aus der medialen Vernetzung der Feste ergaben und die nicht ohne Auswirkungen auf die Gestaltung der eigentlich unabhängigen lokalen Festveranstaltungen im Deutschen Bund blieben. Erst die Berichterstattung, so Gudewitz, ermöglichten "eine Einordnung des eigenen Handels in den übergeordneten Bedeutungszusammenhang" (65). Gudewitz ordnet diesen Befund in die Nationalstaatsdebatte ein und verweist darauf, dass jede Nationalfeier somit als Medienereignis identifizierbar sei.

Die Bedeutung der Presse für die Partizipation von Frauen an politischen Prozessen und Formen der Meinungsbildung unterstreicht Allice Primi in ihrem Kapitel. Provokativ um schreibt sie die Presse als erste "feministische" Organisationen, durch die Frauen an der politischen Meinungsbildung teilnehmen konnten. Allerdings sei das Verhältnis zwischen Geschlecht und Presse durchaus ambivalent. Keine der von ihr untersuchten Autorinnen habe sich selbst als Journalistin bezeichnet. Aber dennoch sei den Frauen durch die Möglichkeit, in der Presse die Öffentlichkeit zu erreichen, die Hoffnung gegeben worden, aktiv am politischen Leben teilzunehmen.

Anne-Claude Ambroise-Rendu wendet sich verstärkt den Inhalten zu und diskutiert die Rolle der öffentlichen Meinung als sozialer Steuerungs- und Kontrollmechanismus. Dem individuellen Leser, der individuellen Leserin würde sich durch das Anwachsen der Presse und die Vielzahl an Publikationen nicht nur ein erweitertes Spektrum an Informationen eröffnen. Vielmehr würden auch Informationen, die das Individuum unmittelbar beträfen, in die Öffentlichkeit getragen. So erhielte die Diskussion des Alltäglichen in der Presse starke normative Aspekte, die sich in Formen des Beschuldigens, Auslachens oder der Entrüstung ausdrückten. In diesem Sinne sei auch die These der Entpolitisierung der Gesellschaft durch die Medien vereinfacht und würde der gesellschaftlichen Bedeutung der "faits divers" nicht gerecht.

Philip Müller diskutiert den Zusammenhang von Presse und Staat. Am Beispiel der Episode über den Hauptmann von Köpenick zeigt er auf, dass die Polizei sich durchaus der Presse bediente, um Verbrechen aufzuklären. Gleichzeitig verursache die verstärkte Berichterstattung, dass auch die staatliche Gewalt das Geschehen dramatisiere und in eine Narrative des Verbrechens einordne. Müller zeigt ebenso die Grenzen der Beeinflussung auf und betont die Dynamiken, die sich hinter dem Verbrechen verbargen.

Frank Bösch argumentiert ebenso für eine Beziehungsgeschichte zwischen Presse und Staat, die die Einwirkungsmöglichkeiten nicht alleine auf der Seite staatlicher Autoritäten sieht. Für das deutsche Kaiserreich entwickelt er anhand einer Reihe von Fallstudien die These, dass der autoritäre Staat durchaus eingeschränkt gegenüber der Presse sei. Eine zentrale Rolle nehmen in Böschs Argumente Skandale ein, die in den Medien intensiv diskutiert wurden. In dem Dreiecksverhältnis von Parlament, Regierung und Öffentlichkeit betont Bösch nicht nur die Möglichkeiten der "Vierten Gewalt", etwa Gesetzgebungsprozesse zu beeinflussen, sondern auch die Grenzen der Einflussnahme.

Auch Martin Kohlrausch stellt die Bedeutung des investigativen Journalismus in Frage. Die Rolle der Presse habe nicht in der dedektivischen Aufspührung von Unrecht bestanden, sondern einen Raum für die öffentliche Verhandlung individuellen Handelns dargestellt. Dass dieser Prozess auch vor dem Staatsoberhaupt des Kaiserreiches nicht halt macht, zeigt Kohlrausch in seinem Aufsatz über Medienskandale und Monarchie. Mit Bezug auf John B. Thompsons untersucht er Skandale aus dem Umfeld Wihelms II. und kommt dabei zu einem ambivalenten Ergebnis, nämlich der zunehmenden Politisierung der Öffentlichkeit gegenüber Themen bei gleichzeitiger Depolitisierung gegenüber den Inhalten.

Laurent Bihl eröffnet den Abschnitt über "Visualisierung". Anhand dreier Satirejournale, "La Caricature", "Le Courrier français" und "Le Rire" zeigt er auf, wie das Gesetz über die Pressefreiheit aus dem Jahre 1881 durch zusätzliche Gesetzgebung in Hinblick auf die Veröffentlichung von Bildern in den folgenden drei Jahrzehnten eingeschränkt wurde. Anhand von Fallstudien, ausgehend von dem "l'année pornographique" 1880, zeigt er auf, dass vor dem Weltkrieg die normativen Vorgaben an die Karikaturisten notfalls auch in juristischen Prozessen durchgesetzt wurden. Für die Karikaturen gilt dabei, dass sie in ihrer Aussage deutlicher und rücksichtsloser, aber auch schwerer zu fassen waren als Texte oder Fotografien.

Daniela Kneissls Schwerpunkt liegt weniger auf den Produzenten als auf den Konsumenten. Mit "La Père Gérard" diskutiert sie eine Zeitung, die sich speziell an die Landbevölkerung der Dritten Republik wandte. Neben gestalterischen und editorischen Aspekten wie beispielsweise der direkten Ansprache an die Leser zeigt Kneissl auf, wie die Zeitung den Versuch unternahm, die Republikanisierung der Bauernschaft in einer Krisenzeit der Landwirtschaft voranzutreiben (160). Sie macht deutlich, dass sich hinter der rhetorischen Strategie der "Gazette nationale" der Versuch verbarg, die verwirrende Vielfalt der Wirklichkeit zu ordnen (160).

Einen der interessanten Beiträge liefert Ludwig Vogl-Bienek, der die gesellschaftliche Bedeutung von Projektionsmedien vor 1895 diskutiert. Nach einem kurzen Überblick über den Forschungsstand zur historischen Projektionskunst als Vorform der filmischen Darstellung zeigt er auf, wie Aufführungen von "Laterna Magica", "Magic Lantern" oder Projektionen genutzt wurden, um die soziale Frage zu diskutieren. Vogl-Bienek kann zeigen, dass soziale Themen dadurch wahrnehmbarer wurden, dass sich das Publikum aber gleichzeitig von den Problemen als passiver Zuschauer distanzieren konnte. Wie groß der Einfluss gewesen sein muss, den die Projektionskunst gerade auch in Hinblick auf soziale Themen einnahm, macht Vogl-Bienek anhand des "Ersten Kongresses für Volksunterhaltung" im Jahr 1897 deutlich.

Den Ereignischarakter betont auch Frank Becker in seinem Beitrag zu dem Panorama als nationalem Erlebnisraum. Anhand der französischen und deutschen Panoramen zu dem Krieg von 1870/71 zeigt er die Zusammenhänge von "Massenmedium und Erinnerungsort" auf. Die von Menschen verschiedener sozialer Herkunft besuchten Zeltinstallationen dienten dazu, die Bilder einer nationalen Glorifizierung zu transportieren. Der Vergleich zwischen den französischen und den deutschen Panoramen, aber auch der innerdeutsche Vergleich machen deutlich, dass dabei die "Vision einer Nation als Erfahrungsgemeinschaft" (191) mit Vorstellungen und Inhalten aufgeladen wurden, die der Glorifizierung der eigenen Nationalgeschichte dienten.

Dem Herausgeber ist es gelungen, viele der Forschenden, die in den vergangenen Jahren wesentliche Beiträge zur wissenschaftlichen Diskussion der Medien des 19. Jahrhunderts geliefert haben, in einem Band zu versammeln. Auch wenn nur vereinzelte Beiträge einen komparativen Zugang gewählt haben, bieten alle Kapitel ausreichend Anknüpfungspunkte, um die Fragestellung nach dem 19. Jahrhundert als Mediengesellschaft voranzubringen. Das Format, Tagungsbeiträge in einfacher, in diesem Fall sehr kurzer Form von 10 bis 15 Seiten abzudrucken, verfügt über Stärken und Schwächen. Ohne Frage wäre es wünschenswert, dass viele der Fragestellungen weiter verfolgt würden. Da sich hinter der Mehrzahl der Beiträge umfangreiche Forschungen verbergen, die bereits als Monografien vorliegen, kann man den Band als Denkanstoß und als Appetitanreger zum Weiterlesen verstehen.

Torsten Riotte