Jonas Grethlein: The Greeks and Their Past. Poetry, Oratory and History in the Fifth Century BCE, Cambridge: Cambridge University Press 2010, XII + 350 S., ISBN 978-0-521-11077-8, GBP 55,00
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Jonas Grethlein / Christopher B. Krebs (eds.): Time and Narrative in Ancient Historiography. The 'Plupast' from Herodotus to Appian, Cambridge: Cambridge University Press 2012
Schon im Titel steckt ein Programm. Selbstverständlich weiß Jonas Grethlein, dass jede griechische Polis ihre eigene Vergangenheit hatte; das Reden über diese war überdies geprägt vom Kontext, in dem ein durch die Medien und Modi der Geschichtskultur formiertes, reproduziertes und tradiertes 'Wissen' jeweils gebraucht wurde, bald zur befriedenden Integration, bald zur polemischen Exklusion. Was das Politische in Griechenland kennzeichnete, das prägte auch die zur Geschichte destillierte und mobilisierte Vergangenheit. [1] Gleichwohl vermeidet es der Heidelberger Gräzist, von "pasts" oder gar postmodern-verrätselnd von "past(s)" zu sprechen - und das, obwohl er eine ganze Reihe von Autoren des 5. Jahrhunderts behandelt und auch in die archaische Zeit zurückgreift. Der Konstruktion von zeitlicher Differenzierung und Vergangenheit in der Ilias hat er zuvor ein wichtiges Buch gewidmet [2] und die nun vorliegende Arbeit führt das dort theoretisch und interpretatorisch Ausgelegte in mehrfacher Weise fort.
Die Begründung, warum die Hellenen "in the grip of the past" waren (B.A. van Groningen), zugleich so etwas wie den archimedischen Punkt seines Unternehmens, sieht der Autor nun freilich nicht in der Identitätskonstruktion durch Vergangenheit, sondern in einem altbekannten, geschichtstheoretisch etablierten Zusammenhang: In dem, was passiert und ihnen zustößt, erfahren Menschen Kontingenz, und das Geschehene und Erfahrene zu erinnern und zu deuten, vermag Kontingenz zu bewältigen und Handeln zu ermöglichen. Dieser Fokus führt weg von einem - durchaus möglichen, für das archaische und klassische Hellas noch ausstehenden, intellektuell indes nicht sehr attraktiven - Inventar der Geschichtskultur und hin zu einem phänomenologischen und hermeneutischen Ansatz: Nicht mediale Modi und politische Funktionen des (sich) Erinnerns stehen im Mittelpunkt [3], sondern Grundphänomene menschlicher Existenz wie Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit, Erwartung und Erfahrung, Kontinuität und Bruch. In Anlehnung an und in Auseinandersetzung mit Gadamer, Koselleck und Rüsen entwickelt Grethlein ein eigenes Modell, indem er zunächst zwischen "contingency of chance" als eher erleidender Erfahrung von Unbestimmbarkeit und Erwartungsdurchkreuzung einerseits und "contingency of action", also der Handeln ermöglichenden Dimension von Kontingenz andererseits unterscheidet [4], um dann diskursive Strategien der Bewältigung unter dem Etikett "idea of history" zu typologisieren: die Konstruktionen von Kontinuität, Regelhaftigkeit, Entwicklung und "acceptance of chance" (9). [5] Besonders in seiner theoretischen Fundierung und Systematik ist dies ein sehr 'deutsches' Buch.
In diesem Rahmen misst Grethlein das Feld literarischer Vergegenwärtigung von Vergangenheit im 5. Jahrhundert aus, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten, wobei die chronologische Anordnung der Autoren ausdrücklich keine Evolution suggerieren solle; vielmehr hätten die unterschiedlichen Gattungen auch differente "ideas of history" (187). Es geht Grethlein ausdrücklich nicht um eine 'Vorgeschichte' der griechischen Historiografie oder um die Entwicklung 'des griechischen Geschichtsbildes' - ein höchst fruchtbares Abweichen von den traditionellen Fragestellungen. Grethlein rekonstruiert ferner intellektuelle und literarische Optionen, mit Kontingenz fertig zu werden, nicht politische Wirkungen - das erlaubt es, einerseits das archäologische Material auszuklammern, andererseits Herodot und Thukydides die Hälfte des Buches zu widmen, obwohl "one may doubt whether historiography was the primary medium of memory in classical Greece." (3)
Kunstgerechte, jederzeit transparente Interpretationen geeigneter Texte machen die beiden Hauptteile der Studie aus. Grethlein behandelt zunächst Dichtung und Rhetorik, dann die Historiografie. Dem Programm folgend wird immer wieder gefragt, wie Kontingenz aufgewiesen und zugleich bewältigt wird, ferner wie Zeit in den Texten organisiert, sichtbar gemacht oder zum Verschwinden gebracht wird und wie Ereignisse einander spiegeln. In Pind. Ol. 2 sieht Grethlein durch das Schicksal von Oedipus und seinen Söhnen die bedrohliche "contingency of chance" repräsentiert, der kompensierend und zum Handeln ermutigend Familientradition und exemplarisches Vorbild entgegengestellt werden; "the traditional and exemplary modes of memory serve as counterweights against contingency of chance that threatens human identities and actions." (33) Eine subtile Aufschließung der 1992 erstmals publizierten Simonides-Elegie im Lichte früherer Elegien historischen Inhalts (Tyrtaios und Mimnermos) fördert "a specific arrangement of the traditional, exemplary, developmental and accidental modes of memory" zutage (48). Grethlein scheut sich nicht, auch Bekanntem zur Evidenz zu verhelfen: Dass exemplarische und traditionale Sinnbildung einander ergänzen, dass das Meer als besonders kontingenzträchtiger Raum galt und dass die "agonistic interaction between the various genres of memory" (64) zwischen den Dichtern und in deren Rekurs auf Homer besonders intensiv war, all das ist für sich nicht neu, wird hier aber in erhellende Zusammenhänge gebracht. Zu diesem Wettbewerb gehört die Verfremdung und Entfernung zeitnaher Ereignisse durch Mythifizierung [6]; diese bereits von den Elegikern gepflegte "heroization of recent history" (101) erlaubte es, kürzlich an den Tag gelegte Leistungen mit denen der Heroen in eine Linie zu stellen und durch exemplarische Sinnbildung Selbstbewusstsein und Handlungselan zu fördern. Grethlein zeigt dies für Aischylos' Perser auf, als deren Grundakkord er ansonsten die dramatische Spannung zwischen Erwartung und Erfahrung sieht, die an den fernen Gegnern durchgespielt, aber naheliegenderweise den athenischen Zuschauern als eine Möglichkeit auch für ihre Zukunft nahegebracht wird. Einen weiteren Vorteil des Kontingenzparadigmas sieht der Autor darin, dass es nicht-determinierte, situationsbezogene, der komplexen Akteurskonstellation angemessene Erklärungen von Ereignissen und Prozessen erlaubt und damit monokausale Muster ("Schuld") vollends obsolet macht; was sich schon in den Persern abzeichnet, gewinnt dann in der Historiografie seine volle Potenz (103).
In den gegenüber der Tragödie wesentlich eindimensionaleren epitaphioi logoi, die Grethlein anhand von Lys. 2 behandelt, fehlt "contingency of chance" fast ganz, was nicht verwundern kann: Die individuelle Erfahrung erscheint hier ganz aufgehoben in der Stärke Athens seit Anfang der Zeiten. Die chronologische Kluft zwischen der alten Zeit und der jüngeren Vergangenheit wird überbrückt; Athens Geschichte figuriert als lange Kette großer Taten (113). Zum affirmativen, auf Identität zielenden Genre passt die Verbindung von exemplarischer und traditionaler Sinnbildung. Mit den einschlägigen poetischen Texten teilen die Gefallenenreden auch das Ziel, die Kriegstoten durch Ruhm unsterblich zu machen (124). In kritischer Absicht herbeizitiert wurde Vergangenheit weit seltener, aber Andokides' Rede über den Frieden (Ende der 390er Jahre) erlaubt es, "to catch a glimpse of a view of the Athenian past that is very different from the semi-official version of the epitaphioi logoi." (129). In argumentativ-polemischer Absicht konnten auch negative Exempla aufgerufen werden. Zugleich wurden in der Rhetorik des 4. Jahrhunderts Parallelen aus der jüngeren Vergangenheit gegenüber solchen aus der ältesten bevorzugt. [7]
Wie Herodot und Thukydides sich von den anderen memorativen Genres zu unterscheiden suchen, ohne sich ganz loslösen zu können, ist ein Gegenstand des zweiten Hauptteils. Eine wesentliche Voraussetzung für ihre Unabhängigkeit war bekanntlich das Fehlen einer Bindung an eine einzelne Polis. [8] Grethlein zeigt die Autonomisierung an verschiedenen Textstücken auf. So kritisiert Herodot im Helena-Logos (2,112-120) Homer und in den Rededuellen 7,153-163 und 9,26-27 den Umgang mit Vergangenheit in der symbouleutischen Rhetorik. Zyklische Vorstellungen und die Idee der göttlichen Vergeltung stellen nur vordergründig Kompensationen für "contingency of chance" dar und Grethlein sieht die Stärke gerade der Historiografie (und der Tragödie) darin, sich einfachen Zuschreibungen zu verweigern (195f.): "In the Histories as well as in the Persae, the pluralism of concepts testifies to the difficulty of mastering contingency of chance in a coherent system even in retrospect." Während auf der Ebene der Akteure Erfahrungskontingenz betont wird, bewältigt Herodot diese auf der Ebene der Narration - und leistet damit, so wäre hinzufügen, was dann in der Historiografie des Historismus systematisch praktiziert wurde. Immer wieder unterscheidet Grethlein mit Gewinn die funktionalen Zielrichtungen der verschiedenen Sprechakte von den grundlegenden Sinnbildungsstrategien und den narrativen Verfahren (Prolepsis, "wise adviser" u.a.), sodass ein eng geknüpftes analytisches Netz entsteht, das gemeinsame Züge und markante Absetzbewegungen gleichermaßen einzufangen erlaubt. Im Detail wie im Ganzen ergibt das keine wirklich neuen Einsichten, aber ein differenziertes Gesamtbild. [9]
Thukydides legte bekanntlich großen Wert darauf, seine eigene Verarbeitung der Vergangenheit als singulär und überlegen erscheinen zu lassen. Grethlein arbeitet dies anhand von viel besprochenen Passagen (1,20-22; 6,54-59) gut heraus; überzeugend versteht er die logographoi 1,21,1 als "Redner": Dann wären in der Tat alle Geschichte erzeugenden Texte seit Homer als defizitär gekennzeichnet. Eine falsche Alternative baut Grethlein allerdings auf, wenn er Nicole Loraux' Fanfare - "Thucydide n'est pas un collègue!" - zustimmend aufgreift und zwischen des Atheners methodologischer Strenge und moderner wissenschaftlicher Objektivität unterscheidet (211): Trägt Letztere tatsächlich ihr Ziel in sich selbst und dient sie nicht ebenfalls dazu, nützliche, das heißt valide Einsichten zu produzieren? Hier hat der Autor die Selbstkastration der Geschichtswissenschaft zu leicht nachvollzogen - und das "ideal of objectivity pursued by many modern historians" ist ja längst als äußerst problematisch erkannt. Das ändert nichts daran, dass Grethleins Interpretationen der Gefallenenrede des Perikles und der Plataiai-Debatte (3,52-68) im Lichte seiner Leitfrage nach Spiegelungen in der agonalen Arbeit an der Geschichte gründlich und lesenswert sind. Mit Recht wird Thukydides' nüchterne Einsicht herausgestellt (237), "that historical arguments ultimately do not count for much in power politics. [...] The past is outweighed by expediency." Damit ist die Sonderstellung der Historiografie untermauert: Je weniger Geschichte konkret-performativ instrumentalisiert (und deshalb interessegeleitet verzerrt) wird, desto nützlicher ist sie als Einsicht 'für immer' (239). In der Schilderung der Sizilischen Expedition zeigt sich, dass Thukydides' Geschichtswerk, anders als die Texte der übrigen behandelten Autoren, keinen Trost und keine Wappnung gegen leidvolle Erfahrungskontingenz bereithält: "unlike in Herodotus, there are no patterns which create stability." (268) Allerdings ist den politisch Handelnden zu empfehlen, vor ihren Entscheidungen ebensoviel Sorgfalt und Kritik walten zu lassen wie der Historiograf bei der Rekonstruktion des Geschehens.
In einem Epilog weitet Grethlein den Blick zu einem Vergleich des "historischen Fiebers" (Nietzsche) im klassischen Griechenland und in der Moderne und sucht auch hier Gemeinsamkeiten und Unterschiede möglichst präzise zu benennen. Ob die Griechen (und Römer) Wandel negieren mussten, um Vergangenheit exemplarisch nutzen zu können, ist mir nicht sicher, und auch über sein Verständnis von Historismus - den er im Englischen leider "historicism" nennen muss und so terminologisch nicht von Poppers Historizismus trennen kann (s. das Oxford English Dictionary, s.v.) - möchte man gern mit dem Autor diskutieren. Insgesamt kann aber kein Zweifel bestehen, dass hier eine profunde, weiterführende und künftig für viele Fragen immer wieder heranzuziehende Studie vorliegt. Der klare Bezugsrahmen und eine fürsorgliche Leserführung [10] lassen das Buch mitunter als Exekution eines vorgegebenen Programms erscheinen. Angesichts der ansonsten zu beobachtenden Verbreitung assoziativer Einfallsphilologie gereicht dieser Eindruck dem überdies sorgfältig produzierten Werk fraglos zu hohem Lob.
Anmerkungen:
[1] Das ist Thema eines Teilprojektes des Bielefelder SFB 584 "Das Politische als Kommunikationsraum in der Geschichte"; s. http://www.uni-bielefeld.de/geschichte/forschung/sfb584/project/phase3_b16_abstract.html.
[2] Vgl. Jonas Grethlein: Das Geschichtsbild der Ilias. Eine Untersuchung aus phänomenologischer und narratologischer Perspektive, Göttingen 2006; dazu Christof Ulf: http://www.sehepunkte.de/2007/09/10323.html. Vgl. auch Jonas Grethlein: Memory and material objects in the Iliad and the Odyssey, in: JHS 128, 2008, 27-51.
[3] Gleichwohl gibt es auch dazu immer wieder erhellende Bemerkungen; s. etwa 42; 71f. Der "socio-political context" ist im ersten Teil eine feste Abfragerubrik.
[4] Nicht ganz klar wird, ob Grethlein mit "chance" nur "Zufall" meint, oder ob auch andere Bedeutungen mit gemeint sind.
[5] In Anlehnung an Jörn Rüsens Modi der "Sinnbildung", deren Bestimmung und Klassifikation Grethlein allerdings nur bedingt folgt: 90 Anm. 46.
[6] Dazu grundlegend (Grethlein offenbar nicht bekannt): Mischa Meier: Die Deiokes-Episode im Werk Herodots - Überlegungen zu den Entstehungsbedingungen griechischer Geschichtsschreibung, in: König der Meder. Eine Herodot-Episode in ihren Kontexten, hg. von Mischa Meier u.a., Stuttgart 2004, 27-51, v.a. 40ff.
[7] So auch in Rom; s. Frank Bücher: Verargumentierte Geschichte. Exempla Romana im politischen Diskurs der späten römischen Republik, Stuttgart 2006.
[8] Irrig erscheint indes die Ansicht, Herodots Werk sei zur panhellenischen Perspektive der homerischen Epen zurückgekehrt (187) - von einer solchen kann keine Rede sein, da sie die Option zwischen Polispolitik und Koalitionspolitik voraussetzt und daher erst nach den Perserkriegen überhaupt denkbar war.
[9] In der Diskussion der proleptischen Verweise auf Athens Großmachtpolitik (202 u.ö.) fehlt ein Hinweis auf Wolfgang Blösel: Themistokles bei Herodot. Spiegel Athens im fünften Jahrhundert, Stuttgart 2004.
[10] Im Habitus einem amerikanische Drill-Sergeant nicht unähnlich sagt Grethlein dem Leser vor jedem Schritt, was er tun wird, dann tut er es, um anschließend zu sagen, was er getan hat und vor dem nächsten Schritt zu resümieren, was der Vorige erbracht hat.
Uwe Walter