Silke Ackermann: Sternstunden am Kaiserhof. Michael Scotus und sein Buch von den Bildern und Zeichen des Himmels, Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2009, 642 S., ISBN 978-3-631-59489-6, EUR 98,00
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Silke Ackermann, die schon 1987 in Frankfurt am Main eine Magisterarbeit über den geheimnisumwitterten Michael Scotus vorgelegt hat, kennt sich mit dessen Leben und Werk so gut aus wie kaum jemand sonst. Als Kuratorin im British Museum für die Sammlungen wissenschaftlicher Instrumente aus dem christlichen und islamischen Bereich beschäftigt sie sich beruflich auch nach Beendigung ihrer Hochschultätigkeit weiterhin in starkem Maße mit Fragen des Kulturtransfers im Mittelalter auf mathematischem Gebiet, zu dem ganz wesentlich auch die Astronomie beziehungsweise Astrologie zu zählen sind. Einer der Gelehrten, deren Rolle in diesem Vermittlungsprozess im frühen 13. Jahrhundert noch immer zahlreiche Fragen aufwirft, ist Michael Scotus. Ackermann zitiert dazu Charles Burnett vom Londoner Warburg Institute mit folgender bemerkenswerten Aussage aus dem Jahr 1994 über Michael: "[...] his life and his works are still shrouded in mystery [...]. Scholarly work on Michael Scot is in its infancy" (61). Um so gespannter nimmt man Ackermanns voluminöse Publikation mit dem mehrdeutigen, doch etwas zu reißerisch anmutenden Titel zur Hand, deren Vorwort übrigens erstaunlicherweise nicht erkennen lässt, dass es sich um eine für die Drucklegung aktualisierte Fassung ihrer Frankfurter Dissertation aus dem Jahr 1996 (!) handelt.
Zunächst legt Silke Ackermann den neuesten Forschungsstand bezüglich Leben und Werk des wissenschaftlich anscheinend vielseitig interessierten Klerikers und Magisters Michael Scotus dar (13-53), welcher der Nachwelt vor allem als einer der Hofastrologen des Stauferkaisers Friedrich II. und "Magier" im Gedächtnis geblieben ist. Dieser erste Teil des Buches endet mit einem Überblick über alle ihm zu Recht oder Unrecht zugeschriebenen Werke und Übersetzungen, die bislang gedruckt wurden, in Tabellenform (53-57) sowie einem "Abriß der Forschungslage" (58-61), der doch besser an den Anfang gehört hätte. Im Zentrum des Werkes steht freilich die von Ackermann angefertigte Erst-Edition mit paralleler deutscher Übersetzung von Michaels in relativ zahlreichen Codices überliefertem Liber de signis (et ymaginibus celi) (106-281). Die Präsentation dieses Traktats wird eingerahmt von einer Hinführung zum Text, die über Inhalt, Entstehung und wissenschaftshistorischen Kontext informiert (63-97), sowie von einem Sachkommentar, der vor allem philologische, astronomisch-astrologische und mythologische Detailfragen behandelt (282-432). Darauf folgt eine vergleichende Analyse der benutzten Handschriften (433-487), eine akribische Beschreibung und Inhaltsangabe derselben (488-553) und gleichsam als Zugabe eine weitere Edition, nämlich die des "Schwestertextes" "Firmamentum celi", diesmal allerdings ohne Übersetzung (554-572). Die Schlussbetrachtung unter dem Titel "Sternstunden am Kaiserhof? Einblicke und Aussichten" ist recht kurz ausgefallen (573-575). Im Anhang findet sich ein reichhaltiges, allerdings formal nicht immer sorgfältiges Verzeichnis von Quellen und Literatur (577-642). Leider sind auch über die Bibliographie hinaus viele Druckfehler beim Korrekturlesen übersehen worden.
Das "biographische" Kapitel dieser Neuerscheinung dürfte auf das größte Interesse der Leserschaft stoßen. Zwar ist "das meiste seit langem bekannt und schnell zusammengefaßt" (15); dennoch gaben und geben die wenigen Quellen zum Wirken von Michael Scotus - falls sie überhaupt auf ihn und nicht auf einen Namensvetter zu beziehen sind, wie etwa ein seit wenigen Jahren diskutierter Eintrag im "Liber Vitae" der Kathedrale von Durham - dem kombinatorischen Scharfsinn zahlreicher Forscherinnen und Forscher immer wieder neue Nahrung. Silke Ackermann wägt alle Zeugnisse und Hypothesen umsichtig ab und kann sich dabei vor allem den Deduktionen von Charles Burnett oder auch von Wolfgang Stürner nicht immer anschließen. Gleichzeitig macht sie auf wenig beachtete spanische und englische Literatur aufmerksam und zeigt unter anderem, dass, anders als bislang anzunehmen war, dem Elekten Michael Scotus eine mangelnde Gewandtheit im Irischen lediglich als Vorwand für seinen Verzicht auf das Amt des Erzbischofs von Cashel in Irland diente. Ackermann hält es ferner nicht für ausgeschlossen, dass er auch zur Zeit von Papst Innozenz IV. noch gelebt hat. Wichtiger als die weiterhin strittigen Fragen nach Todesdatum bzw. Alter oder Herkunft, der Tätigkeit in Toledo und Bologna, den Kirchenpfründen, der Beziehung zu Papst und Kaiser und so weiter erscheint jedoch die nach Michaels wissenschaftlichem Rang, das heißt seiner Bedeutung als Autor und Übersetzer, der sich eigentlich durch seine Beherrschung fremder Sprachen angeblich besonders auszeichnete. Diesbezüglich trägt Ackermann viele Argumente zusammen, die dafür sprechen, die Fähigkeiten von Michael Scotus einschließlich seiner Arabischkenntnisse nicht allzu hoch einzuschätzen. Sehr schwer wog zu seiner Zeit auch die offenbar mangelnde Beherrschung des Griechischen.
Die Edition und Analyse des "Liber de signis" stellt den Versuch einer Probe aufs Exempel dar: Ackermann will ihn "paradigmatisch" untersuchen (vergleiche 11). Das Opus ist ein Teil des "Liber quatuor distinctionum" und damit des ersten von drei Büchern, die mit einem Vor- und Nachwort zusammen Michaels berühmten "Liber introductorius" bildeten. Die letzte Distinktion dieses ersten Buches und der Epilog scheinen heute verloren (67 Anm. 8). Bei dem "Liber quatuor distinctionum" handelt es sich um ein Astrologie-Handbuch für Anfänger. Lediglich in zwei Handschriften mit Langfassungen ist gleichzeitig der "Liber de signis" überliefert, der jedoch auch ohne seinen Kontext im 14. und 15. Jahrhundert vielfach abgeschrieben und dabei inhaltlich immer wieder verändert wurde. Als beste Grundlage für die Edition wählte Ackermann drei Handschriften eines von ihr als "böhmisch" von einem "oberitalienischen" und einem "venezianischen" abgegrenzten Typus aus (100 f.). Inhaltlich behandelt der "Liber de signis" nach einem Prolog die zwölf Tierkreiszeichen, 36 weitere Sternkonstellationen, jeweils deren Auf- und Untergänge und die "sieben" Planeten. Wichtige Quellen waren für Michael Scotus offenbar vor allem die sogenannten "Scholia Strozziana" zur "Aratea" des Claudius Germanicus, der Liber Nimrod aus dem 10. und darüber hinaus wahrscheinlich die "Iudicia" des Pseudo-Ptolemäus aus dem 12. Jahrhundert.
Einen kritischen Umgang etwa mit den tradierten Aufgangs- und Untergangszeiten der Sternbilder lässt Michael Scotus durchweg nicht erkennen. Manche griechischen oder arabischen Wörter wurden von ihm verballhornt. Noch stärker beeindruckte Silke Ackermann in negativer Hinsicht die fehlende Benutzung arabischer Fachliteratur, sogar in Form Michael Scotus selbst zugeschriebener Übersetzungen! Zumindest Anklänge an den lateinischen "Almagest" waren hingegen von ihr auszumachen. Die angekündigte, mit beeindruckender editorischer und thematischer Sachkenntnis durchgeführte "Probe aufs Exempel" fiel also wenig schmeichelhaft für den "summus philosophus" aus, als den der große Mathematiker Leonardo Fibonacci seinen Zeitgenossen Michael Scotus einmal betitelt zu haben scheint. Weitere Proben anhand anderer Werke stehen allerdings noch aus.
Gerd Mentgen