Thomas Fischer / Daniel Gossel (Hgg.): Migration in internationaler Perspektive (= Schriftenreihe des Zentralinstituts für Regionenforschung der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg; Bd. 5), München: Allitera 2009, 385 S., ISBN 978-3-86906-041-5, EUR 34,00
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Thomas Fischer: Neutral Power in the CSCE. The N+N States and the Making of the Helsinki Accords 1975, Baden-Baden: NOMOS 2009
Thomas Fischer: Gladius. Roms Legionen in Germanien, München: C.H.Beck 2020
Daniel Gossel: Medien und Politik in Deutschland und den USA. Kontrolle, Konflikt und Kooperation vom 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2010
Der von Thomas Fischer und Daniel Gossel herausgegebene Band geht auf eine Vortragsreihe an der Universität Erlangen-Nürnberg über historische und gegenwärtige Migrationsphänomene zurück, die im Wintersemester 2006/2007 veranstaltet worden war. Das erklärte Ziel war und ist, eine internationale Perspektive auf das Thema zu eröffnen und den Fokus auf Länder und Regionen außerhalb Deutschlands zu legen. Die "internationale Perspektive" mag ein wenig altmodisch klingen, haben doch transnationale und globale Fragestellungen auch in der neueren Migrationsforschung an Gewicht gewonnen. Sie ist jedoch insofern treffend, da die Schwerpunkte auf Europa, Nord- und Südamerika und damit den transatlantischen Raum gelegt werden. Asien und Afrika hingegen werden wenig berücksichtigt.
Der Sammelband ist in vier thematische Kapitel aufgeteilt und untersucht jeweils Migrationsprozesse, Migrationskontrolle, Identität und Integration und schließlich gegenwärtige wirtschaftliche Aspekte. Marita Krauss reflektiert zu Beginn über zentrale Kategorien und Begriffe der Migrationsforschung und betont den individuellen Charakter von Migration, der sich auch und gerade in persönlichen Netzwerken von Migrantinnen und Migranten wieder finde - ein Thema, das die Migrationsforschung seit einiger Zeit intensiv untersucht. Am Beispiel von Bayern dekliniert Klimt dann einige zentrale Fragen wie die der Religion und der Motivation von Auswanderern im 19. Jahrhundert durch und betont, dass Migranten keineswegs die Ärmsten der Armen sein mussten, wie es das verbreitete Klischee lange nahe legte.
Im ersten thematischen Kapitel folgen historische Überblicke über europäische Migrationsbewegungen nach Lateinamerika (Walther Bernecker), Nordamerika (Heike Bungert) und Frankreich als Einwanderungsland (Günther Ammon). Deutlich wird, wie fundamental Migration für die untersuchten Länder war und wie sehr der jeweilige nationale Kontext die spezifische Migrationsgeschichte formte. Galten im 19. Jahrhundert in lateinamerikanischen Ländern wie Chile und auch in den USA und Kanada "weiße" Einwanderer, beispielsweise Deutsche, als besonders willkommen, so lag dies neben einem positiven Bild von Europäern auch daran, dass dort angesichts der indigenen Bevölkerung und dorthin verbrachten afrikanischen Sklaven multiethnische Gesellschaften entstanden waren. Frankreich wiederum, benötigte aufgrund seines schwachen Bevölkerungswachstums und des wirtschaftlichen Booms Ende des 19. Jahrhundert eine erhebliche Zuwanderung, die sich insbesondere in den jeweiligen Grenzregionen manifestierte.
Zwar verweisen die Beiträge bisweilen auf die Netzwerke von Migranten - so gingen 80 Prozent der deutschen Einwanderer in den USA zu Verwandten und weitere 15 Prozent zu Bekannten (73) - doch berufen sie sich zu sehr auf die sattsam bekannten push- und pull-Faktoren, die einfach zu schematisch sind und nicht zuletzt die historischen Akteure als solche verschwinden lassen.
Das folgende Kapitel beleuchtet die Migrationspolitiken Brasiliens (Rüdiger Zoller), Großbritanniens (Kathrin Munzert), Spaniens (Axel Kreienbrink) und der Europäischen Union (Petra Mendel). Deutlich wird, dass Konzeptionen von "Rasse" die jeweilige Migrationspolitik maßgeblich beeinflussten, etwa in dem stark von Einwanderung geprägten Brasilien, das im 19. und 20. Jahrhundert auch mittels europäischer Einwanderer modernisiert werden sollte. Axel Kreienbrink kontrastiert in seinem Beitrag über Spanien die Ein- und Auswanderung; gingen im frühen 20. Jahrhundert noch viele Spanier (zwischen 1905 und 1913 alleine 1,5 Millionen Menschen) insbesondere nach Lateinamerika, so wandelte sich Spanien seit den 1980er Jahren zu einem Einwanderungsland und die Migrationspolitik versorgte nun den spanischen Arbeitsmarkt mit den fehlenden Arbeitskräften.
Anschließend diskutieren die Beiträge Fragen von Integration und Identität, wenngleich Letzteres wissenschaftlich nicht unbedingt einfach zu erfassen und in der Migrationsforschung als Analysekategorie nicht unumstritten ist. Matthias S. Fifka untersucht asiatische Migranten in den USA, Thomas Fischer italienische und spanische Migranten in Argentinien und Anna Holtmannspötter die gegenwärtige polnische Diaspora in Spanien und Großbritannien. Galten chinesische und japanische Migranten in den Vereinigten Staaten seit Mitte des 19. Jahrhunderts als "rassische" und kulturelle Gefahr (yellow peril) , so wandelten sich die Asian Americans über die Jahrzehnte zu einer "model minority", die überdurchschnittlich ausgebildet und vergleichsweise wenig auffällig war. Einen überaus interessanten Fall analysiert Sina Flessel mit den Nikkei in Brasilien, japanische Einwanderer und ihre heute rund 300.000 Nachfahren. Im Laufe der Zeit und über die Generationen sei eine ganz eigene Nikkei-Identität entstanden, in der sich symbolisch auf japanische Traditionen bezogen, Identität aber situativ hergestellt werde.
Das abschließende Kapitel beschäftigt sich dann mit aktuellen, wirtschaftlichen Fragestellungen wie dem brain drain, der Migration von Hochqualifizierten in Großbritannien (Daniel Gossel), einem vergleichenden Blick auf Migranten auf dem Arbeitsmarkt (Hans Dietrich von Loeffelholz) und der neuerdings wieder vermehrt festzustellenden Auswanderung von Deutschen (Stefanie Wahl).
Die Vielzahl der diskutierten Fakten konnte hier selbstverständlich nur ansatzweise angedeutet werden. Wie von den Herausgebern versprochen, eröffnet der Band vielfältige internationale Perspektiven auf historische und gegenwärtige Migrationen. Es wäre meiner Meinung jedoch wünschenswert gewesen, wenn mehr Beiträge eine vergleichende Perspektive eingenommen hätten. Die Mehrzahl der Artikel untersucht Migration recht konventionell in einem nationalen Rahmen; hier hätten transnationale Fragestellungen die Perspektive noch weiter öffnen können, indem sie beispielsweise stärker die Rückwirkungen von Migration auf die Herkunftsregionen beleuchtet hätten. So wichtig Statistik und quantitative Angaben für die Migrationsforschung auch sein mögen, man wünscht sich bisweilen einmal eine Beschreibung eines veritablen Migranten, ein "Gesicht" und einen Namen, sprich eine individuelle Migrationsgeschichte. Hatte Marita Krauss in ihrer theoretischen Einleitung noch an den individuellen Charakter von Migration erinnert, so ist davon im Laufe des Buches doch sehr wenig zu finden. "Wasser-Metaphorik" - etwa in der Bezeichnung von "Strömen" von Migranten - ist meines Erachtens generell wenig hilfreich, um Migration wissenschaftlich zu untersuchen und verständlich zu machen.
Trotz dieser Defizite ist der Sammelband aber mit sehr viel Gewinn zu lesen und bietet zahlreiche Informationen und Analysen über internationale Migration. Gerade die Kombination von Geschichte und Gegenwart kann überzeugen und schärft den Blick für aktuelle Fragen und Diskussionen rund um das Thema. Schließlich bereichert die internationale Perspektive auch hiesige Debatten, da hiermit verschiedene Vergleichsmaßstäbe angeboten werden, mittels derer die spezifische deutsche Migrationsgeschichte und gegenwärtige Entwicklungen besser eingeschätzt werden können.
Lars Amenda