Thomas Fischer: Neutral Power in the CSCE. The N+N States and the Making of the Helsinki Accords 1975 (= Wiener Schriften zur Internationalen Politik; Bd. 12), Baden-Baden: NOMOS 2009, 392 S., ISBN 978-3-8329-4475-9, EUR 59,00
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Aus heutiger Perspektive könnte man zu dem Schluss kommen, Neutralität als außenpolitisches Konzept habe ausgedient. Bis zum Ende des Kalten Krieges jedoch war sie für vier europäische Mittelstaaten ein erfolgreiches Mittel, die nationale Sicherheit zu wahren und sich aus dem Konflikt der Großmächte und ihrer Militärallianzen herauszuhalten. Dabei erlebte sie gerade zwischen 1945 und 1990 eine wahre Blüte und hatte, wie Thomas Fischer zeigt, einen ihrer Höhepunkte im KSZE-Prozess.
Fischers Studie gesellt sich zu einer ganzen Reihe neuerer Forschungsarbeiten zum KSZE-Prozess, zu der er bereits mit seiner 2004 erschienenen Dissertation zur schweizerischen KSZE- und UNO-Politik zwischen 1969 und 1986 sowie zahlreichen Aufsätzen beigetragen hat. [1] Von der Schweiz einmal abgesehen gab es bis dato jedoch keine umfassenden, quellengestützten Untersuchungen zur KSZE-Politik der neutralen und nicht paktgebundenen Staaten (im KSZE-Jargon "N+N-Staaten" genannt). Mit der vorliegenden Arbeit schließt Thomas Fischer somit eine wichtige Forschungslücke.
Die Arbeit besteht aus fünf ausgewogenen, im Wesentlichen der Chronologie folgenden Kapiteln und ist schon allein aufgrund der Fülle der verwendeten Quellen beeindruckend. Neben einschlägigen Quelleneditionen werden Akten aus österreichischen, finnischen, schweizerischen, britischen und französischen Archiven herangezogen, ergänzt durch zahlreiche Interviews mit beteiligten Diplomaten. Thomas Fischers Intention ist es, die Entstehung der N+N als "group actor" (18), ihre gemeinsamen Ziele und ihre Rolle in den Verhandlungen näher zu beleuchten. Dabei argumentiert er, dass die Zusammenarbeit der N+N-Staaten von den beteiligten Staaten nicht antizipiert wurde, geschweige denn geplant war und sich keineswegs auf alle Bereiche der Verhandlungen erstreckte. Vielmehr gab es Themen, bei denen große Uneinigkeit unter den N+N-Staaten bestand und eine engere Zusammenarbeit nicht erreicht oder gar nicht erst angestrebt wurde.
Kapitel 1 geht zunächst auf die Entstehung von Neutralität und Blockfreiheit ein, um anschließend deren spezifische Entwicklungen in den neutralen Staaten Finnland, Österreich, Schweden und der Schweiz sowie im blockfreien Jugoslawien darzulegen. Diese fünf Staaten bilden den Kern der Gruppe der N+N-Staaten, weshalb sie in Fischers Studie im Vordergrund stehen. Anschließend werden die Reaktionen dieser fünf Staaten auf die Détente der 1960er Jahre dargelegt, wobei große Unterschiede allein schon zwischen den vier neutralen Staaten deutlich werden.
Das zweite Kapitel zeichnet die "Parallel Paths to Helsinki" (83) nach. Spätestens seit Ende der 1960er Jahre setzten sich die N+N-Staaten mit der sowjetischen Idee einer europäischen Sicherheitskonferenz auseinander. Finnland und Österreich sprachen sich am deutlichsten für eine solche Konferenz aus. Vor allem diese beiden Neutralen versuchte die Sowjetunion seit dem Bukarester Appell von 1966 als Initiatoren für ihr Konferenzprojekt zu gewinnen. Während Österreich dem sowjetischen Druck standhielt, ließ Helsinki sich zumindest scheinbar vor den außenpolitischen Karren der Sowjetunion spannen, wie die finnische KSZE-Initiative vom 5. Mai 1969 nahelegt. Auch wenn bereits bekannt war, dass Finnland damit primär eigene außenpolitische Ziele verfolgte [2], liefert Fischer eine profunde Analyse ihres Entstehungshintergrundes. Er wertet sie überdies als "turning point in European Cold War history" (100), was kaum übertrieben erscheint, da erst dadurch der Weg zur KSZE geebnet wurde.
Im dritten und vierten Kapitel widmet Fischer sich den N+N-Staaten während der zweieinhalbjährigen Verhandlungen, zunächst bei den multilateralen Vorgesprächen 1972 bis 1973 im Konferenzzentrum Dipoli bei Helsinki, dann bei der eigentlichen Konferenz 1973 bis 1975 in Helsinki bzw. Genf. Dabei wird deutlich, dass es zunächst Österreich, Schweden und die Schweiz waren, die schnell und zur Überraschung aller zu gewichtigen und respektierten Akteuren avancierten - sowohl durch ihre eigenen Vorschläge zur Tagesordnung und ihr koordiniertes Vorgehen als auch durch erste Vermittlungstätigkeiten. Finnland stieß im Sommer 1973 zu den Neutralen hinzu, Jugoslawien und die anderen nicht paktgebundenen Kleinstaaten im Jahr darauf. Erst Anfang 1974 wurde aus einer "loose ad hoc coalition" (246) eine quasi-institutionalisierte Gruppe, vor allem dank gemeinsamer Interessen der N+N-Staaten im Bereich der militärischen Sicherheit. Sie blieb jedoch keineswegs von internen Auseinandersetzungen verschont und hatte gegen Ende der Verhandlungen den Zenit ihres Wirkens bereits überschritten.
Im letzten Kapitel geht Fischer der Frage nach, warum die N+N-Staaten einen so starken Einfluss auf die Verhandlungen ausüben konnten. Er führt dies im Wesentlichen auf die egalitären Verhandlungsregeln, die Doppelrolle der N+N als Vermittler einerseits und Vertreter eigener Interessen andererseits, das Verhandlungsgeschick einzelner herausragender Diplomaten und die weitgehende Unabhängigkeit ihrer Delegationen von Allianzpartnern und den eigenen Außenministerien zurück.
Insgesamt ist Thomas Fischer ein herausragendes Werk gelungen, welches die Geschichte der N+N-Staaten von den Anfängen des KSZE-Prozesses bis zur Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte in Helsinki am 1. August 1975 zusammenhängend und stringent rekonstruiert. Dabei führt er eindrücklich vor Augen, wie entscheidend die N+N-Staaten für den gesamten KSZE-Prozess tatsächlich gewesen sind. Zum einen waren Ost und West auf neutrale Vermittler angewiesen, da sie einander direkt kaum Zugeständnisse gemacht hätten. Zum anderen brachten die N+N-Staaten in ihren Kompromisspapieren stets eigene Positionen unter, welche gerade in den humanitären Fragen von Korb III sehr nah denen der westlichen Staaten waren. Dies brachte vor allem Österreich, Schweden und der Schweiz bereits während der Vorverhandlungen den Respekt westlicher Teilnehmerstaaten ein, wogegen die Sowjetunion hinnehmen musste, "that there were no neutrals in Basket III." (346) Wenn also die KSZE-Schlussakte einen "Helsinki effect" (Daniel Thomas) nach sich zog, so ist dies in einem bedeutendem Maße auch den N+N-Staaten zu verdanken.
Thomas Fischers Verdienst ist aber noch ein weiteres: An vielen Stellen ist sein Buch eine Geschichte des gesamten KSZE-Prozesses bis 1975, nur eben mit einem besonderen Fokus auf das Wirken der N+N-Staaten. Nur wenige Wermutstropfen sind zu nennen. Ein Personen- und idealerweise auch ein Sachregister wären wünschenswert gewesen. Gelegentlich tauchen kleinere Ungenauigkeiten auf. So war der Schwede Tage Erlander Sozialdemokrat und kein "conservative" (69). Auch waren Österreich und die Schweiz nicht ideologisch neutral (43), was aber an anderer Stelle korrekt dargestellt ist (31). Diese Ausrutscher fallen jedoch nicht ins Gewicht und ändern nichts an dem sehr überzeugenden Gesamteindruck des Werks.
Anmerkungen:
[1] Thomas Fischer: Die Grenzen der Neutralität. Schweizerisches KSZE-Engagement und gescheiterte UNO-Beitrittspolitik im Kalten Krieg 1969-1986, Zürich 2004.
[2] Etwa in Seppo Hentilä: Neutral zwischen den beiden deutschen Staaten. Finnland und Deutschland im Kalten Krieg, Berlin 2006, 121-126.
Benjamin Gilde