Ivo Cerman / Luboš Velek (Hgg.): Adel und Wirtschaft. Lebensunterhalt der Adeligen in der Moderne (= Studien zum Mitteleuropäischen Adel; Bd. 2), München: Martin Meidenbauer 2009, 302 S., ISBN 978-3-89975-056-0, EUR 44,00
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Ivo Cerman: Habsburgischer Adel und Aufklärung. Bildungsverhalten des Wiener Hofadels im 18. Jahrhundert, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2010
Obwohl die Adelsgeschichte seit ungefähr 15 Jahren in Deutschland große Konjunktur hat, was sich in einer Vielzahl von Publikationen neuer methodischer wie thematischer Art widerspiegelt, bleibt dennoch das Verhältnis des Adels zur Industrialisierung, zur wirtschaftlichen Modernität und zum Geld ein noch unzureichend erforschtes Thema. [1] Dies scheint auch für die tschechische Historiographie zu gelten, deren Interpretationsmuster der Adelsgeschichte noch stark vom marxistischen Modell geprägt ist. [2] Im Rahmen des am Institut für die Geschichte Tschechiens der Prager Karls-Universität angesiedelten Forschungsprojektes "Umwandlung der gesellschaftlichen Elite im Prozess der Modernisierung: Der Adel in den böhmischen Ländern 1749-1848" wird nunmehr versucht, die Geschichte des Adels in Böhmen auf eine neue Grundlage zu stellen.
Der vorliegende Sammelband, der auf eine Tagung aus dem Jahr 2005 zurückgeht, widmet sich den wirtschaftlichen Aktivitäten und der finanziellen Lage des böhmischen Adels von der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts. Da die meisten Beiträge vor allem die Zeit zwischen Spätaufklärung und den 1860er Jahren behandeln, bleibt das Ende des 19. Jahrhunderts und damit die "Moderne", wie sie im Untertitel angesprochen wird, eher am Rande. Adel steht hier meistens für hohen und reichen Adel, also jene Familien, die über weitläufigen Grundbesitz und "kulturelle Souveränität" verfügten. Adel wird hier anhand biographischer oder in Form von Familienfallstudien untersucht, was mit dafür bürgt, dass die gewonnenen Befunde präzise und empirisch fundiert sind. Allerdings verliert dadurch die Perspektive, die den Adel als Gesamtphänomen oder als aus unterschiedlichen Fraktionen bestehende Gruppe betrachtet, zunehmend an Schärfe. Die knappe Einführung stellt zwar den Forschungskontext her, doch gelingt es den Herausgebern nicht immer, eine klare Fragestellung zu entwickeln. Unklar bleibt zudem, was für den böhmischen Adel unter "Wirtschaft" und "wirtschaftlicher Anpassung" zu verstehen ist. Die Qualität des Buches beruht also mehr auf den zahlreichen Einzelinformationen der insgesamt 13 Aufsätze als auf einer problemorientierten Konzeption.
Der Band gliedert sich thematisch in vier Teile. Der erste Teil versucht, die Frage zu beantworten, ob das Ende des 18. Jahrhunderts eine Zeit der Krise für die Haushalte des böhmischen Adels darstellte. In seinem quellengesättigten Aufsatz nimmt Aleš Valenta zunächst Abstand von den pauschalen Verdikten bezüglich der sogenannten Finanzinkompetenz und dem rein verschwenderischen Verhalten des Adels. Damit stellt er die Finanzlage der böhmischen Großgrundbesitzer zwischen 1740 und 1800 in einen breiteren politischen wie sozialen Kontext. Nicht nur Repräsentations- und Baukosten verschlangen viel Geld, sondern auch und vor allem die zahlreichen Kriege der Periode, die wachsende staatliche Steuerlast wie auch die politischen und die Agrarreformen. Häuften sich die Schulden bis etwa 1750 deutlich an, so war die zweite Hälfte des Jahrhunderts von einer Phase finanzieller Erholung und größerer "wirtschaftlicher Verantwortung" geprägt. Dass es nach einem Bankrott schwer war, finanziell wieder Fuß zu fassen, geht aus dem von Vaclav Pražák analysierten Briefwechsel zwischen den Grafen Czernin und ihrem Hauptkassierer hervor: Zwischen 1746 und 1796 war Geldmangel und Geldbedarf die Hauptthematik dieser Korrespondenz.
Der zweite Teil behandelt konkrete Fälle unternehmerischen Engagements von Adeligen, was das Bild einer adelsintern ablehnenden Haltung gegenüber Unternehmertum und Industriegründungen stark relativiert, dabei aber zugleich innere wie äußere Widerstände aufzeigt. Am Beispiel der Larisch-Mönnich studiert Aleš Zářický die Art und Weise, wie sich diese Familie anscheinend reibungslos binnen drei Generationen von Großgrundbesitzern zu marktorientierten, investitionsfreudigen Agrarunternehmern und schließlich zu Industriegründern entwickelte. Es bleibt aber die Frage im Raum, wie repräsentativ dieses Fallbeispiel ist. Wirtschaftliches Engagement fußte nicht nur auf der Basis des Grundbesitzes: In der Theresianischen Ära folgte der Graf und Staatsbeamte Harbuval und Chamaré (Beitrag von Bohumír Smutný) einem Lebensweg, der ihn von der Position des Direktors der k. k. Leinwandmanufaktur Pottenstein zum selbständigen Unternehmertum führte; allerdings wurde der Betrieb dann von seinem erfolglosen Sohn verkauft. Erstaunlicher ist das Beispiel der von Dana Štefanová untersuchten "k. k. oktroyierten Wiener Kommerzial-, Leih- und Wechselbank", der ersten Aktienbank Mitteleuropas, die 1787 von den hochadeligen Schwarzenberg, Collerodo-Mansfeld und Nostitz-Rieneck gegründet wurde. Zwar hielten sich diese Aristokraten aus dem alltäglichen Geschäftsbetrieb weitgehend heraus, doch zeigten sie bereits früh ein modern anmutendes Engagement beim Aufbau des Finanzwesens und verfügten über eine gewichtige Position bei der strategischen Entscheidungsfindung innerhalb des Kreditinstituts. Die Staatsverwaltung und die Öffentlichkeit betrachteten diese Beteiligung mit Skepsis, was zeigt, dass ein solches Engagement "nicht unbedingt mit einem sozialen Prestige für die Adeligen verbunden war" (82).
Im dritten Teil wird der Kern der wirtschaftlichen Aktivitäten des Adels in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, also nach der Grundentlastung, analysiert, nämlich die wirtschaftliche Restrukturierung der Güter und ihre Anpassung an die neuen Verwaltungs- und Rentabilitätsformen. Die Beiträge von Raimund Paleczek und Milan Hlavaka über die Fürsten Johann zu Schwarzenberg und Georg Lobkowicz liefern ähnliche Ergebnisse: persönliches Engagement des Gutsherrn, Aufbau einer professionellen Gutsverwaltung, Umwandlung der Güter in agrarkapitalistische Wirtschaftseinheiten mit industriellen Neben- oder Erwerbsunternehmen, Förderung der Forst- und Landwirtschaftsvereine und eine Nutzung des eigenen politischen Einflusses kennzeichneten die Wirtschaftsart dieser Latifundienbesitzer. Wie rentabel die Güter waren, wird hier nicht thematisiert, beide Autoren weisen aber darauf hin, dass die Adeligen ständig zwischen konservativer Einstellung und Innovationsbereitschaft changierten. Die Einkommensdiversifizierung ermöglichte es manchen Adeligen, so Konstantinos Raptis über die Vermögenslage der Grafen Harrach, in den Umbruchszeiten der 1930er Jahre ihren Besitz aufrechtzuerhalten und weiterhin ein standesgemäßes Leben zu führen. Die von Šárka Lelloková untersuchte Familie von Schwarzenberg konnte es sich sogar erlauben, eine Farm in Kenia ohne Rentabilitätsperspektive zu kaufen, um dort das idyllische Leben im Stile der Grandseigneurs fern von Nationalsozialismus und Kommunismus weiterführen zu können.
Der letzte Teil des Buches ist bemüht, den bisherigen, auf Böhmen zentrierten Blick zu erweitern und widmet sich daher anderen europäischen Adelslandschaften. Während die Aufsätze von András Vári und Tim S. Müller über die ungarischen bzw. vogtländischen Großgrundbesitzer Befunde zur Veränderung der adeligen Grundbesitzstruktur über die longue durée liefern, unternimmt Tatjana Tönsmeyer einen echten Vergleich, indem sie die wirtschaftliche und soziale Lage der böhmischen adeligen Großgrundbesitzer derjenigen der britischen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts gegenüberstellt. Sie kommt zum Ergebnis, dass die böhmischen Adeligen u. a. wegen einer früheren und intensiveren Anpassung ihrer Güter an die Gegebenheiten des Marktes die Agrarkrise offenbar besser überstanden als die britischen. Was das Verhältnis des Grundherrn zu seinen Verwaltern, Angestellten und Pächtern angeht, sind keine grundlegenden Unterschiede zwischen England und Böhmen zu verzeichnen. In beiden Ländern kümmerten sich die Adeligen um den Aufbau ihrer Güterverwaltung, sie spielten eine tragende und engagierte Rolle in den strategischen Entscheidungsprozessen wie im Alltagsmanagement der Güter, machten ihre Verwalter zu Vermittlern zwischen sich und der ländlichen Gesellschaft; dabei prägten immer noch Paternalismus, autoritärer Habitus, ja sogar Willkür ihr Verhältnis zu den Landarbeitern.
Der Sammelband greift etliche neue Themen auf und seine Beiträge informieren über verschiedene aufschlussreiche Beispiele adeligen wirtschaftlichen Engagements. Wichtige Fragen bleiben dennoch unberücksichtigt: Waren alle Adeligen wirtschaftlich so erfolgreich, wie die hier präsentierten Fälle suggerieren? Wie stellte sich das Verhältnis von Adeligen ohne eigenen Grundbesitz bzw. der jüngeren Söhne, wie das der adeligen Töchter zur "Wirtschaft" dar? Haben die Adeligen die Chance ergriffen, neue Berufe in der Wirtschaft auszuüben? Gerade die Zielrichtung der wirtschaftlichen Anpassungsleistungen des Adels sowie der Zusammenhang zwischen "Adeligkeit" und Wirtschaft formen grundlegende Fragekomplexe, die eine noch tiefergehende Ausleuchtung verdient hätten. Gleichwohl stellen die Beiträge einen wichtigen ersten Schritt hin zur Wiederbelebung der historischen Forschung zum böhmischen Adel im 19. und 20. Jahrhundert dar.
Anmerkungen:
[1] Siehe dennoch Manfred Rasch (Hg.): Adel als Unternehmer im bürgerlichen Zeitalter, Münster 2006; und Monika Wienfort: Der Adel in der Moderne, Göttingen 2006, Kap. "Grundbesitz und Vermögen".
[2] Erstaunlicherweise werden hier die Pionierstudien von Hannes Stekl: Österreichs Aristokratie im Vormärz. Herrschaftsstil und Lebensformen der Fürstenhäuser Liechtenstein und Schwarzenberg, München 1973; und von Ralph Melville: Adel und Revolution in Böhmen. Strukturwandel von Herrschaft und Gesellschaft in Österreich um die Mitte des 19. Jahrhunderts, Mainz 1998 kaum herangezogen bzw. zitiert.
Thierry Jacob