Ivo Cerman: Habsburgischer Adel und Aufklärung. Bildungsverhalten des Wiener Hofadels im 18. Jahrhundert (= Contubernium. Tübinger Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte; Bd. 72), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2010, XIV + 503 S., ISBN 978-3-515-09639-3, EUR 84,00
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Im Rahmen der Tübinger Beiträge zur Universitäts- und Wirtschaftsgeschichte erschien im Band 72 die überarbeitete Dissertation von Ivo Cerman unter dem Titel Habsburgischer Adel und Aufklärung. Bildungsverhalten des Wiener Hofadels im 18. Jahrhundert. Hiermit liegt erfreulicherweise eine weitere aktuelle Studie zur Adelswelt und zu adeligen Erziehungs- und Ausbildungsfragen im Umkreis des Wiener Hofes vor. Was der Haupttitel des Werkes nicht verrät und sich dem Leser erst aus dem Klappentext beziehungsweise dem detaillierten Inhaltsverzeichnis erschließt, ist der Versuch Cermans, seinen wissenschaftlichen Ansatz im Vergleich dreier Familien, nämlich der Chotek ("neuer Adel"), der Dietrichstein ("hoher Adel") und der Windischgrätz ("Aussteiger") abzuhandeln. Eine solche Studie mag man zu drei gleichwertigen, in ihrer gesellschaftlichen Zugehörigkeit auf gleicher Stufe stehenden Familien erwarten. Es verwundert, dass Cerman seine Thesen anhand so unterschiedlicher Dynastien entwickelt, die aufgrund ihrer divergierenden geographischen Schwerpunkte, gesellschaftlichen Stellung und Hofpositionierung nur schwer miteinander vergleichbar scheinen.
Dem übersichtlichen Inhaltsverzeichnis (V-VII) folgt ein Abbildungsverweis (IX-XII), die übliche Danksagung sowie eine Einleitung (1-15) mit einem Überblick zur aktuellen Forschungslage und zu den diversen Auslegungen und Aspekten der Begriffe Aufklärung, adelige Erziehung und Bildung. Man vermisst allerdings grundlegende Forschungsergebnisse zum Allgemeinphänomen Erziehung und Bildung bei Hofe, zur Person Kaiser Franz' I. Stephan und seines lothringischen Umfeldes, das nicht unwesentlich die Ausprägung der Aufklärung in Wien mit französischer Denkrichtung beeinflusste. Ebenfalls unerwähnt bleiben die revolutionären "vor-aufklärerischen" Erziehungsideen des Fürsten Karl Eusebius von Liechtenstein für seinen Sohn Johann Adam Andreas. Auch das Paradebeispiel einer fürstlichen aufgeklärten Erziehung, jener des Infanten Ferdinand von Parma, das in ganz Europa mit Interesse verfolgt wurde, fehlt. [1]
Drei Großkapitel, flüssig geschrieben und mit ausreichendem Anmerkungsapparat versehen, liefern Vorinformationen. Im Abschnitt I ("Adel und Aufklärung", 17-92) legt Cerman, fokussiert auf den Aspekt Erziehung und Bildung in den Habsburgerländern, "die Reaktion des Adels auf die französische Aufklärungsdiskussion" (17) dar und verweist auf den Einfluss und die Rezeption der französischen Geisteskultur. Der Abschnitt II ("Die Lebenswelt des Wiener Hofadels", 93-202) zeigt Grundlinien in der historischen Entwicklung des Hofadels (die "klassischen Ämter", 97), seiner Herkunft und seines Tagesablaufs sowie seiner Bildungsstandards auf. Ausführlich wird dabei das "Hofumfeld" von Maria Theresia und Kaiser Franz I. Stephan besprochen. In diesem Abschnitt entfernt sich der Autor von seinem eigentlichen Untersuchungsgegenstand, wenn er ohne erkennbaren Bezug ausführlich die "Wiener Hofstaatreformen" und die "Bedeutung der adeligen Leibgarden" behandelt (103-126, 133-135). Teil III widmet sich "Institutionen der Ausbildung und Vergesellschaftung" (203-252).
Unter Punkt IV ("Das Bildungsverhalten dreier Generationen des Wiener Hofadels 1700-1820") folgt die eigentliche Untersuchung zum Bildungsverhalten unter aufgeklärten Aspekten bei den Familien Chotek (253-301), Dietrichstein (314-384) sowie Windischgrätz (385-428). Der Autor stellt die drei Familien prägnant vor und erläutert mit kurzem historischen Hintergrund und richtungweisenden Stationen deren Herkunft. Im Abschnitt zu den Chotek vermisst man allerdings das deutliche Herausarbeiten aufgeklärter Erziehungsprinzipien. Die besprochenen Linien schildern in drei Generationen tatsächlich nur ein traditionelles, dem 16. und 17. Jahrhundert verhaftet gebliebenes Erziehungsschema.
Im Falle der Dietrichstein zeigt sich, dass um die Mitte des 18. Jahrhunderts die obligate Kavalierstour nicht mehr nur dem Studium und dem Höfebesuch galt, sondern neue kulturell-ästhetische Aspekte, wie der Besuch von Ausgrabungen und die "Wahrnehmungsweise der Natur", zum Tragen kamen (354). Die Grafen Dietrichstein und Windischgrätz orientierten sich in der zweiten behandelten Generation an Rousseau. Die Eltern lieferten konkrete Instruktionen an die Erzieher, widmeten sich schwerpunktmäßig der weiblichen Unterweisung und griffen in den kindlichen Tages- und Entwicklungsablauf ein (357-365, 401-410). Als neuartig galt auch der Einsatz von pädagogischen Fachleuten im Unterricht. Bei den Windischgrätz wird hervorgehoben, dass bereits die erste untersuchte Generation vor 1700 mit frühaufgeklärter Literatur, wie Fénélons Telemach, in Berührung kam (388). Die nachfolgende Generation wurde bereits in einem breit angelegten und pädagogisch ausgefeilten Fächerbündel unterrichtet, nicht unähnlich dem des späteren Kaisers Joseph II. Marie Josephine Windischgrätz trat sogar als Autorin eines aufgeklärten Lebensentwurfes in Erscheinung. Sie stand dabei den Vorstellungen Rousseaus durchaus kritisch gegenüber und zeigte eigene Lösungsvorschläge auf (411-428). Eine Zusammenfassung schließt die Arbeit ab (447-452).
Einige Passagen sind ausgesprochen salopp bzw. missverständlich oder ungenau formuliert, wenn Cerman etwa die These aufstellt: "Insbesondere am Wiener Hof sprach man französisch, las französische Bücher [...]." Oder: "Auf den Kavalierstouren besuchten die Adeligen zumeist Frankreich [...]" (18). Der französische Kultureinfluss hatte zeitpolitisch-kulturelle Hintergründe, so galt Französisch an so gut wie allen Fürstenhöfen als "die" Sprache der Nobilität und Diplomatie. Historisch betrachtet, ist diese Aussage insofern brisant, als vor allem Kaiser Leopold I. aufgrund dynastisch-politischer und familiärer Querelen mit Ludwig XIV. versuchte, alles Französische zu unterdrücken, und im Gegenzug die italienisch-spanische Kultur förderte. In Bezug auf die angesprochenen Kavalierstouren ist anzumerken, dass sich seit dem 17. Jahrhundert ein regelrechter Kanon der zu besuchenden Länder etablierte und sich diese nicht auf eine einzelne Nation beschränkten. Bedauerlicherweise sind dem Autor einige Anachronismen unterlaufen, wenn vor dem Jahre 1745 im Bezug auf Maria Theresia von einem "Kontakt mit der Kaiserin 1743/44" und im Falle Franz' I. Stephan von "dienten Kaiser Franz I. seit 1736" die Rede ist (110).
Gelungen ist das Quellen- Literaturverzeichnis, welches sich in "Alte Drucke und Editionen" sowie "Sekundärliteratur" unterteilt und dem sich ein brauchbares Orts- und Sachregister anschließt. Besonders ansprechend sind die zahlreichen Illustrationen (75 Stück), vier davon in der Buchmitte als Farbtafeln gestaltet (nach 258).
Die Stärke der vorliegenden Arbeit und das Verdienst des Autors liegen in der präzisen Aufarbeitung und Auswertung von bislang unbekanntem, höchst aufschlussreichem Quellenmaterial aus den Familienarchiven der Protagonisten zum adeligen Privatleben, insbesondere zum Umgang mit Kindern sowie deren Erziehung und Ausbildung. Interessant sind dabei vor allem die vorgestellten Tagesordnungen, vergleichbar den heutigen Stundenplänen (273, 325, 333), erhaltene Schulhefte und diverses Unterrichtsmaterial sowie elterliche Anweisungen und Traktate (319, 322, 403, 411).
Anmerkung:
[1] Werner Paravicini / Jörg Wettlaufer (Hgg.): Erziehung und Bildung bei Hofe (= Residenzenforschung 13), Stuttgart 2002; Renate Zedinger (Hg.): Franz Stephan von Lothringen und sein Kreis (= Jahrbuch der österreichischen Gesellschaft zur Erforschung des 18. Jahrhunderts 23), Bochum 2008; Herbert Haupt: Von der Leidenschaft zum Schönen. Fürst Karl Eusebius von Liechtenstein (1611-1684), Bd. 2: Quellenband (= Quellen und Studien zur Geschichte des Fürstenhauses Liechtenstein 2), Wien / Köln 1998; Elisabeth Badinter: Der Infant von Parma, oder: Die Ohnmacht der Erziehung, München 2010.
Thomas Kuster