Sonja Weinberg: Pogroms and Riots. German Press Responses to Anti-Jewish Violence in Germany and Russia (1881-1882), Bruxelles [u.a.]: Peter Lang 2010, 243 S., ISBN 978-3-631-60214-0, EUR 44,80
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Zerlumpte hakennasige Gestalten in langen Mänteln, mit langen Bärten, Geldsäcken und Regenschirmen, wandern auf Grenzpfähle mit Wegweisern hin, die "nach Berlin", "nach Frankfurt am Main" und "nach Hamburg" zeigen. Mit Peitschen und Gewehren werden sie angetrieben von bärtigen Uniformierten in Pluderhosen. Die "Austreibung der Juden aus Russland" ist auf einer kolorierten Postkarte aus der Zeit des Deutschen Kaiserreichs drastisch dargestellt, und es wird offensichtlich, dass die Sympathien des Zeichners nicht bei den Juden liegen. Ein kleineres Bild rechts oben auf der Postkarte zeigt die Ankunft der Vertriebenen jenseits der Grenze: Im "Gasthaus zur fidelen Zwiebel" werden sie "Willkommen in Deutschland" geheißen. Hier enthält sich der Zeichner jeder wertenden Tendenz. Nicht so der deutsche Käufer und Versender dieser Postkarte: "So etwas wäre hier einmal sehr nötig", hat er den Empfänger seine Meinung über die gewaltsame Vertreibung der russischen Juden handschriftlich wissen lassen.
Das Titelbild von Sonja Weinbergs Studie, einer Londoner Dissertation, verdeutlicht auf treffende Weise ihre zentrale These: Antisemitische Vertreibungsphantasien seien im Deutschen Kaiserreich meist nur privat geäußert worden, weil gewaltsamer Antisemitismus gesellschaftlich verpönt war. Wenn dagegen Pogrome in Russland thematisiert wurden, fielen diese Hemmungen auch unter Deutschen. Die Untersuchung des Echos auf antijüdische Gewalt in Russland enthülle deshalb antisemitische Tendenzen, die in Kommentaren zu Pogromen im Kaiserreich selbst zurückgehalten worden seien.
Um das zu belegen, hat Weinberg die Berichterstattung von vier deutschen Zeitungen zu den Pogromen, die sich 1881/82 in Südrussland und im östlichen Preußen ereigneten, detailliert ausgewertet. Etwas aus dem Rahmen der Untersuchungsobjekte fällt dabei die Allgemeine Zeitung des Judentums. Überzeugt von der Notwendigkeit und Möglichkeit einer Assimilation, zeichnete ihre Redaktion Antisemitismus in Deutschland wie Russland als ein von Eliten ausgehendes Phänomen. Die Masse der Bevölkerung sei nicht eigentlich judenfeindlich, sondern werde allenfalls von den Eliten manipuliert. Diese Sicht des Antisemitismus als ein Ersatzkonflikt beeinflusste bekanntlich die ältere Forschung, insbesondere Autoren wie Eleonore Sterling.
Andere, wie etwa Christhard Hoffmann, Donald Niewyk und Shulamit Volkov, betonten dagegen die Tabuisierung antisemitischer Gewalt im Kaiserreich, die Antisemiten auf den Pfad des Legalismus getrieben habe. Weinberg widerspricht dem anhand der Berichterstattung über die Pogrome von 1881/82 in "Kreuzzeitung", "Norddeutscher Allgemeiner Zeitung" und "Germania". Die "Kreuzzeitung", das Sprachrohr eines traditionell protestantisch geprägten Konservatismus, sprach sich zwar prinzipiell gegen antisemitische Gewalt aus. Gleichzeitig erklärte sie diese in Russland wie auch in Deutschland angesichts jüdischer "Provokationen" aber für durchaus verständlich.
Die gouvernementale "Norddeutsche Allgemeine Zeitung" zeigte ebenso Verständnis für Pogrome, wenn auch nur im russischen Fall. Auch die katholische "Germania" tat das. In ihren Spalten kamen antisemitische Elemente vor allem zu Wahlkampfzeiten vor. Weinberg zieht aus diesen Befunden den Schluss, dass antisemitische Gewalt von vielen in Deutschland insgeheim schon vor dem Ersten Weltkrieg als legitimes Mittel der Politik gesehen worden sei. Insofern gebe es zwischen den Formen des Antisemitismus in Kaiserreich, Weimarer Republik und "Drittem Reich" mehr Kontinuität als mittlerweile vielfach angenommen wird.
Die Reichweite der Studie ist allerdings begrenzt dadurch, dass abgesehen von der Allgemeinen Zeitung des Judentums, die offensichtlich eine Sonderstellung einnimmt, nur publizistische Quellen des rechten politischen Spektrums herangezogen werden. Leider werden auch keine Nachlässe mit in die Auswertung einbezogen. Damit hätten die Motivstrukturen hinter den verbalantisemitischen Ausfällen besser beleuchtet werden können. So deuten etwa die Befunde über die "Germania" auf Hintergründe katholischer Haltung hin, die bereits aus anderen Zusammenhängen bekannt ist: Wenn Antisemitismus hier zu Wahlkampfzeiten besonders virulent war, dann weil er unter deutschen Katholiken vor allem zur Binnenintegration des Milieus diente. Und dass er eher in russischen als in deutschen Kontexten geäußert wurde, dürfte Folge der Milieu-"Außenpolitik" gewesen sein: Angriffe auf religiöse Minderheiten wie die Juden konnten für die katholische Minderheit im Kaiserreich schnell zu einem Bumerang werden.
Gleichwohl erschließt Weinbergs Arbeit in mancher Hinsicht Neuland und weist zukünftiger Forschung Wege. Ihre Ergebnisse sollten noch verglichen werden mit den Ergebnissen zur Rezeption der Dreyfus-Affäre im Kaiserreich, die sie leider ignoriert. Auch die Untersuchung linkskatholischer, sozialdemokratischer und der besonders auflagenstarken liberalen Zeitungen wäre lohnenswert. Sonja Weinbergs Untersuchung zeigt eindrucksvoll, wie die bisher in der Forschung zum Antisemitismus zu wenig verwendeten transnationalen Untersuchungsmethoden unsere Kenntnisse bereichern könnten.
Christoph Nonn