Philipp Müller: Geschichte machen. Historisches Forschen und die Politik der Archive, Göttingen: Wallstein 2019, 517 S., 9 s/w-Abb., ISBN 978-3-8353-3599-8, EUR 44,90
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Archive, so eine verbreitete Ansicht, sind infolge der Französischen Revolution zu dem geworden, was sie heute sind. Die Umwälzungen der Jahre ab 1789 haben sie demnach von Institutionen, wo Rechtstitel zu politischen Zwecken deponiert wurden, zu Stätten historischer Forschung gemacht. Für die Universitäten ist dieser vermeintliche Zäsurcharakter der Revolution bereits widerlegt worden. Sylvia Paletschek und andere haben gezeigt, dass Forschung an Hochschulen erst im späten 19. Jahrhundert wirklich an Bedeutung gewann. Philipp Müller belegt in seiner Göttinger Habilitationsschrift vergleichbares nun auch für die Archive.
Nicht nur in der frühen Neuzeit dienten diese in erster Linie den eigenen Zwecken der staatlichen Bürokratie, der Dokumentation rechtlicher Ansprüche, der Geheimniswahrung. Das blieb, zumindest in den von Müller untersuchten Fällen Preußen und Bayern, auch noch bis mindestens zur Mitte des 19. Jahrhunderts so. Erst nach 1850 begannen die Archivverwaltungen diejenigen Geschichtsforscher, die in ihre Institutionen kamen, um dort Dokumente einzusehen, überhaupt zu zählen. Sie richteten langsam Räume für auswärtige Benutzer ein, verregelten die Aktenausgabe und trugen damit wesentlich zu einem Wandel der Geschichtsschreibung bei, in dem zeitgenössischen Akten mehr Autorität als den Erinnerungen der Zeitgenossen zugebilligt wurde.
Philipp Müller verfolgt diesen Prozess auf der Grundlage vor allem Münchner und Berliner Archive. Daneben zieht er auch einige Quellen des österreichischen Hauptstaatsarchivs heran. In einem ersten Untersuchungsschritt skizziert Müller auf dieser Grundlage Aufbau und Ordnungskriterien der Archive, ihren staatlich definierten Zweck und ihre sich daraus ergebende Organisation.
Der zweite, eigentliche Hauptteil seiner Untersuchung widmet sich anschließend zunächst den Reformversuchen, in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts die Archive zu "öffnen", und konstatiert deren Scheitern sowohl in Bayern wie insbesondere in Preußen. Dann wendet er sich den Bitten der Historiker um Akteneinsicht zu. Deren Formen standen in der ungebrochenen Tradition vormoderner Suppliken, und entsprechend wurden sie auch von der Bürokratie aufgenommen und bearbeitet. Deutlich knapper wird dann die "Mikropolitik" der Gelehrten dokumentiert, mit denen diese sich Zugang zu den Archiven zu verschaffen suchten. Wie in der frühen Neuzeit bestand sie aus netzwerkendem Lobbying und dem Bemühen um eine Selbstdarstellung, die geeignet schien, die verschlossenen Tore zu öffnen.
Erst ab der Mitte des Jahrhunderts, und nicht zu seinem Beginn, änderte sich das. In Bayern handelte es sich dabei um einen langsamen, mehr kontinuierlichen Prozess, während in Preußen dem Editionsprojekt der Schriften Friedrichs II. die Funktion eines Katalysators zukam. Doch auch hier handelte es sich um eine vielfach schleppende, langwierige Entwicklung. Einen eigenen Lesesaal für Benutzer gab es im Preußischen Staatsarchiv, das bis heute im Namen als "geheimes" fungiert, erst seit 1900.
Philipp Müller führt kompetent und profund in diese Entstehung des "modernen", sich als Serviceinstitution für historische Forschung verstehenden Archivs ein. Bei der Lektüre hat man gelegentlich ein deja-vu, wenn es etwa um Archivare geht, die den Benutzer vor allem als Gefahr für die von ihnen gehüteten Schätze sehen. Auch heute sind zudem zwar alle Benutzer gleich, aber manche eben doch gleicher. Und wissenschaftliches self-fashioning von Historikern ist ebenso wenig ganz aus der Mode gekommen wie die Gewährung von privilegiertem Aktenzugang zu geschichtspolitischen Zwecken. In einem abschließenden dritten Teil weist Müller selbst nachdrücklich auf die vielfältigen Auswirkungen des Wandels der Archive hin, darunter auch die Fortdauer von subtiler Zensur und Selbstzensur wissenschaftlicher Arbeit.
Etwas schade ist, dass die geographische Reichweite der überzeugend vorgetragenen These doch eng begrenzt bleibt. Verglichen wird ausschließlich zwischen Bayern und Preußen. Das mag teilweise der Arbeitsökonomie und Verfügbarkeit von Quellen geschuldet sein. Dennoch wäre zumindest ein Abgleich der gewonnenen Ergebnisse mit der Forschungsliteratur über die Archive der üblichen Verdächtigen Frankreich und Großbritannien wünschenswert gewesen. Dadurch hätte die mögliche Existenz eines "preußischen Sonderwegs" überprüft werden können. So bleibt die Arbeit selbst ein wenig eben jenen nationalen Scheuklappen verhaftet, die der Autor zu Recht an der Geschichte der Geschichtsschreibung einleitend kritisiert.
Auch sonst wird der Anspruch einer "transnationalen" Forschung kaum eingelöst, bleibt die Auswahl der Quellen doch praktisch ausschließlich auf den deutschen Sprachraum eingeschränkt. Selbst die "Mikropolitik" der Gelehrten, die Grenzen überschreitende Netzwerkbildung der Historiker, wird nur aus der Perspektive deutschsprachiger Wissenschaftler beleuchtet. Es wäre interessant gewesen, mehr über die Sichtweise etwa auch der italienischsprachigen Kontakte von Ranke und anderen zu erfahren. Zudem konzentriert sich die von Redundanzen nicht ganz freie Darstellung ganz überwiegend auf die Zeit bis 1850. Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts kommt nur ansatzweise in den Blick.
Von denjenigen Habilitationen dieser Zeit, die nach Paletschek "weniger forschungsintensiv waren als bisher angenommen" (32), unterscheidet sich die vorliegende Arbeit freilich deutlich. Philipp Müller hat die bereits ansehnliche Zahl grundlegender Forschungsarbeiten zur Entwicklung der Historiographie und Geschichtspolitik im 19. Jahrhundert mit ihr um einen grundlegenden Beitrag bereichert.
Christoph Nonn