Stephan Conermann / Syrinx von Hees (Hgg.): Islamwissenschaft als Kulturwissenschaft I. Historische Anthropologie. Ansätze und Möglichkeiten (= Bonner Islamstudien; Bd. 4), Schenefeld: EB-Verlag 2007, 382 S., ISBN 978-3-936912-12-8, EUR 24,80
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Alexander Deeg: Predigt und Derascha. Homiletische Textlektüre im Dialog mit dem Judentum, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006
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Der vorliegende Aufsatzband ging aus einer Ringvorlesung des damaligen Orientalischen Seminars im Jahr 2004 hervor. Zwölf Wissenschaftler widmen sich in dreizehn Beiträgen diesem neuen Ansatz in der Islamwissenschaft. Stephan Conermann weist in der Vorbemerkung auf die Krise der Geisteswissenschaften und ihre Neuverordnung hin. Ihre Legitimation ziehen diese - so auch die Islamwissenschaft - insbesondere aus ihrer neuen Positionierung als Kulturwissenschaft, auf der Grundlage historischer Anthropologie, die alle Bereiche menschlichen Lebens als Untersuchungsgegenstand mit einschließt. Dies schlägt sich in den Beiträgen nieder, die nicht die Theologie, sondern Gegenstandsbereiche menschlichen Lebens im Vordergrund haben. Die Kritik an den bisherigen überwiegenden Forschungen und Fachvertretern zielt nicht auf die Abschaffung der Grenzen der Disziplin Islamwissenschaft, sondern auf die interdisziplinäre Annäherung "auf ihre Überschreitung im Dienste einer wechselseitigen Erhellung" (16). Es geht um die nicht aufzuhaltende allgemeine Anthropologisierung des Wissens. Die gesellschafts- und wissenschaftspolitische Bedeutung solcher Herangehensweise liegt nach Syrinx von Hees im starken Gegenwartsbezug und den interdisziplinären Vergleichen. Das Besondere dieses Ansatzes liegt im Blick auf den Menschen und seine konkreten Vorstellungen über Themen wie Arbeit, Fest, Körper, Sexualität, Zeit und Raum, Herrschaft und Recht, Magie, den gesamten Lebenszyklus. Herausragende Materialbasis liefern Autobiographien, Testamente, Tagebücher und Briefe: subjektive Materialien abseits rein normativer oder spekulativ-metaphysischer Schriften. Damit stellt die Historische Anthropologie eine Fortführung der Alltags- und Mentalitätsgeschichte dar, in der die Wechselwirkung zwischen individueller Vorstellung und der einer Gruppe voneinander abhängig ist.
Das Buch stellt die ersten Impulse einer historischen Anthropologie in der Islamwissenschaft vor. Stephan Conermann nähert sich dem Thema der Liebe in vormodernen, islamisch geprägten Gesellschaften. Sabine Dorpmüller untersucht in ihrem Beitrag "Magisch-religiöses "Krisenmanagement" im Islam" die zum Tragen kommenden Konzepte von Magie und Heilung anhand eines magischen Handbuches des vermutlich 15. Jahrhunderts, mit dem Nebeneinander rituell-magischer und rational-technischer Handlungsanweisungen, die einen erstaunlich großen Handlungsspielraum für das Individuum boten. Ralf Elger widmet sich den, stark sufistisch geprägten, Vorstellungen über das Reisen, auf der mythologischen Grundlegung durch Ġazālī in seinem Aufsatz "Der Mensch auf seinem Lebensweg. Schöpfungsmythos und Kontingenzerfahrung in arabischer Reiseliteratur". Jan-Peter Hartung beschreibt in "Wider die Schmach. Eine historisch-anthropologische Untersuchung von "Beleidigung" in einigen muslimischen Kontexten" Vorstellungen von Beleidigung an den Herrscherhöfen der Moguln und Safawiden aus der diplomatischen Geschichte des 17. Jahrhunderts und zeigt die Möglichkeiten der Wiederherstellung verletzter Ehre in diesem Zusammenhang auf. Anhand von Korankommentaren aus dem 9. bis 15. Jahrhundert versucht Syrinx von Hees in "Die Kraft der Jugend und die Vielfalt der Übergangsphasen. Eine historisch-anthropologische Auswertung von Korankommentaren des 10. bis 15. Jahrhunderts" die darin zum Vorschein kommenden Vorstellungen über Jugend und die Übergangsphase vom Kind zum Erwachsenen herauszuarbeiten. Thomas Herzog beschreibt in "Fenster auf mentale Welten. Gewinn und Schwierigkeiten beim Versuch, sich historisch Imaginaires zu nähern" die Vorstellungen der mamlukischen Gesellschaft über ihre Feinde und deren Wahrnehmungen eines Außen- und Innenraums unter Anwendung des französischen Begriffs des imaginaire (zu Deutsch: Vorstellungswelt). Konrad Hirschler untersucht in seinem Beitrag "Riten der Gewalt: Protest und Aufruhr in Kairo und Damaskus (7./13. bis 10./16. Jahrhundert)" anhand historiographischer Werke populäre Protestaktionen der Mamlukenzeit in Kairo und Damaskus als kulturelle Ausdrucksform in der Analyse ihrer räumlichen Verortung, ihrer auditiven und visuellen Elemente und erklärt daran deren innere Logik und kulturelle Symbolik. Diese Proteste erscheinen als gezieltes Handeln anonymer Akteure innerhalb vorgegebener Handlungsspielräume in Interaktion mit der offiziellen Gewalt. Jasmin Khosravie konzentriert sich in ihrer Untersuchung zum Konzept der Weiblichkeit auf eine herausragende weibliche Persönlichkeit im Iran des 19. Jahrhunderts, Bibi Khanum Astarabadi, anhand deren Textes über "Die Sünden der Männer". Khosravie gelingt es, die Lebenswelt dieser Frau und ihre besonderen Handlungsspielräume einschließlich Veränderungen derselben im Laufe ihres Lebens aufzuzeigen und den Unterschied zwischen der Abhängigkeit vom Willen des Mannes und ihrer aktiven Tätigkeit als Autorin eines die Männerwelt anklagenden Textes herauszuarbeiten. Astrid Meier analysiert in "Den "Pfad des Wissens" verlassen. Ein Plädoyer für das Thema Arbeit als Gegenstand islamwissenschaftlicher Forschung" Vorstellungen über Arbeit anhand von biographischen Notizen über syrische Gelehrte des 18. Jahrhunderts und ihre Handlungsspielräume, einer gewerblichen Tätigkeit nachzugehen und den "Pfad des Wissens" zu verlassen. Sie schließt eine Untersuchung zeitgenössischer Diskussionen in Internetforen über islamisch-moralische Vertretbarkeiten, in internationalen global handelnden Konzernen zu arbeiten, an. Friederike Pannewick zeigt in ihrem Beitrag "Sinnvoller oder sinnloser Tod? Zur Heroisierung des Opfers in nahöstlichen Kulturen" die Verankerung moderner Vorstellungen zum Märtyrertod in Palästina im schiitischen Märtyrerkult. Anhand der Untersuchung palästinensischer Dichtung des 20. Jahrhunderts beschreibt sie die Idee der mystischen Selbstopferung und des nationalen Widerstandskampfes, die Heroisierung ununterbrochener nationaler Niederlagen im Nachhinein und das Schaffen des Nährbodens für seine Nutzung durch die islamistischen Gruppen. Philipp Reichmuth überschreibt seinen Beitrag "Es stinkt zum Himmel". Sauberkeit, Ordnung und Textgebrauch in Leserbriefen an eine Bucharer Tageszeitung von 1912". Er untersucht Vorstellungen und Konzeptualisierungen unbekannter Personen darüber anhand von Leserbriefen einer der ersten in Buchara erscheinenden Zeitungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Sein Ergebnis lautet, dass Vorstellungen über Sauberkeit als Teil der Privatsphäre erscheinen, die übergreifenden Ordnungsvorstellungen gegenüberstehen. Er weist die Ansicht zurück, dass dies auf eine mehr oder weniger "moderne" Mentalität der Leser zurückzuführen sei, sondern verweist auf die unterschiedlichen Absichten der Leserbriefschreiber beim Verfassen ihrer Texte. Henning Sievert beschränkt sich in seinem Aufsatz "Der schwarze Obereunuch Morali Bešīr Ağa in den Augen von Ahmed Resmī Efendi" auf die biographische Charakterisierung einer einzigen Person durch einen osmanischen Bürokraten im 18. Jahrhundert und zeigt dessen Vorstellungen über schwarze Hautfarbe und das Eunuchentum auf. Diese Schrift beinhaltet zunächst eine Lobpreisung der allgemein gültigen Charakterzüge dieses Eunuchen, während später eine Schmähung derselben erfolgt. Das Beschnittensein (der Autor hätte ruhig "Kastriertsein" benützen dürfen) dieses Mannes spielt weder im ersten noch im zweiten Teil eine Rolle, die schwarze Hautfarbe wird im ersten Teil gepriesen und spielt im zweiten keine Rolle; die Schmähung beschränkt sich auf die Umkehrung der guten in die schlechten Charakterzüge. Im Vordergrund scheint die Aufrechterhaltung der islamischen Ordnung zu stehen, die Nicht-Erwähnung des Eunuchentums erscheint als Beweis für seine geringe Bedeutung in der Vorstellungswelt dieses Bürokraten.
Der vorliegende Band I der Reihe "Islamwissenschaft als Kulturwissenschaft" zeigt anhand der ausgewählten Themen und Materialien die Annäherung an das Verstehen der Welt durch den gelebten Alltag von Individuen, unbekannten Personen und kleinen Gruppen, deren Vorstellungen über Umwelt, Gestaltung von Umgebung und Alltag, der Lebenswelt. Dieser Ansatz bewegt sich weg von einer wissenschaftlichen "Hochkultur", die sich auf die Untersuchung der Vorstellungen über Gott, Götter, Gottesbilder und göttliche Welten herum entwickelt hat, und geht eindeutig anthropozentrisch vor. Damit bringt sie den Leser dem Verständnis und der Erkenntnis der Wirklichkeit näher. Man kann sich dem Wunsch des Herausgebers nur anschließen, dass diesem ersten Band weitere folgen mögen.
Assia Maria Harwazinski