Andreas Görke: Das Kitāb al-Amwāl des Abū ʿUbaid al-Qāsim b. Sallām. Entstehung und Überlieferung eines frühislamischen Rechtswerkes, Princeton: The Darwin Press 2003, XI + 204 S., ISBN 978-0-87850-146-5, USD 39,95
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Diese Arbeit des Islamwissenschaftlers Andreas Görke ist zum einen die Untersuchung eines wichtigen Quellenwerkes zur Frühgeschichte des Islam (Beute- und Steuerrecht), und zum anderen ein Beitrag zur Frage der Überlieferung (Datierung und Urheberschaft). Sie erscheint als wichtige historiographische Grundlagenarbeit zum frühen Islam. Die Studie ist in sechs übergeordnete Kapitel gegliedert. In der Einleitung stellt Görke das Problem von Autorschaft und Werküberlieferung im frühen Islam einschließlich aller kritischen Gesichtspunkte dar, die für eine Datierung und Zuordnung in der frühislamischen (Text-)Geschichte wichtig sind und erläutert schließlich das Kitāb al-Amwāl als frühislamisches Werk. Er zitiert Ibn Ḥaǧar, der sorgfältig zwischen "kutub li-fulān" und "kutub ʿan fulān" unterscheidet; eine kleine Präposition schafft einen grundlegenden qualitativen Unterschied, die auf eigenständige Autorschaft oder Überlieferung/Redaktion hinweist. Diese Kleinigkeit macht einen Großteil der Problematik frühislamischer Überlieferungsgeschichte der ersten beiden Jahrhunderte auch für Nichtarabisten deutlich. Das Kitāb al-Amwāl wird entstehungsgeschichtlich in diesem Zeitraum angesetzt. Die Untersuchungsfragen lauten: 1. Ist Abū ʿUbaid tatsächlich der Autor des Werks? 2. Handelt es sich dabei um ein vom Autor abschließend redigiertes Werk? 3. Inwieweit sind Form und Wortlaut des ursprünglichen Werks - falls es ein solches gab - in dem enthalten, was uns heute vorliegt? Görke hat für diese Untersuchung zum ersten Mal die Handschrift Z1096 (aus der Zahiriya-Bibliothek in Damaskus - einem Ort, den Wissenschaftler in absehbarer Zeit wohl nicht mehr aufsuchen können) wissenschaftlich untersucht, die in den bisherigen Editionen des Kitāb al-Amwāl nicht erwähnt bzw. berücksichtigt wurde und die wenigstens 100 Jahre älter als bislang angenommen und damit rund 200 Jahre älter als die Handschriften ist, die diesen Editionen zugrunde liegen (183). Es handelt sich um eine rein textgeschichtliche Arbeit, mit einer rechtsgeschichtlichen Einordnung.
Kapitel 2 ist eine Werkanalyse anhand der biographischen Daten des gebürtigen byzantinischen Sklaven Abū ʿUbaid, seiner theologischen Position (er hing der Lehre von der Unerschaffenheit des Korans an), seiner juristischen Haltung, die sich primär zwischen Mālik und aš-Šāfiʿī bewegt haben soll, zu einem Zeitpunkt, als die verschiedenen Rechtsschulen noch nicht klar ausgebildet waren. Es folgen die Erörterung der bisher bekannten Werke Abū ʿUbaids, eine Untersuchung der verschiedenen Editionen am Beispiel der unterschiedlichen Handschriften und eine Ergebnis-Präsentation. Görke kommt zum Schluss, dass das Werk nur in einer Überlieferung (konkret: riwāya) erhalten ist (58), systematisch geordnet ist und mit zahlreichen Querverweisen versehen, die für eine bewusste und sorgfältige Redaktion sprechen. Die vorliegenden Handschriften enthalten ausschließlich auf Abū ʿUbaid zurückgeführtes Material. Weitere Details werden als Ergebnis aufgeführt. Unter kritischer Auseinandersetzung mit den Theorien von Wansborough und Calder (die beide von einer Redaktion des Koran ausgehen) - Letzterer vertritt die Auffassung, dass es keinerlei gesicherte Beispiele irgendwelcher Redaktionen islamischer Rechtswerke vor dem 3. oder 4. Jahrhundert gibt und die frühesten Werke lediglich marginale Sorge um das Zitieren prophetischer Überlieferungen aufweisen, sondern der organischen Entwicklung anhand der Praxis des raʾy verhaftet sind (59) - untersuchte Görke 1200 Parallelstellen in verschiedenen anderen Werken von Schülern Abū ʿUbaids: Ibn Zanǧawaih und Balāḏurī (Kapitel 3). Kapitel 4 behandelt die Zitate in späteren Werken. Görke bezeichnet den Wortlaut der Überlieferungen bis auf wenige Ausnahmen als "insgesamt recht stabil" (129). Weit weniger aufschlussreich über den ursprünglichen Wortlaut sind die Werke, in denen das Kitāb al-Amwāl zwar zitiert, aber der Überlieferungsweg nicht bekannt war. Sie dokumentieren jedenfalls die weite Verbreitung und große Beliebtheit dieses Werkes bis ins 9. Jh. H./15. Jh. a. D. hinein in weiten Teilen der islamisch geprägten Welt. Kapitel 5 befasst sich mit den Lehrern und Gewährsmännern Abū ʿUbaids. Görke erläutert und präsentiert zunächst die Lehrerlisten in der biographischen Literatur, dann eine lange Liste der Gewährsleute Abū ʿUbaids (97 Gewährsmänner, mit detaillierten Angaben zu deren Lebensdaten, Herkunftsland und Anzahl der Traditionen). Darauf diskutiert Görke mögliche Vorlagen für das Kitāb al-Amwāl und räumt hier den "Steuerbüchern" (kutub al-ḫarāǧ) die größte Rolle ein. Dennoch kommt er zu dem Schluss, dass Abū ʿUbaid diese kutub al-ḫarāǧ nicht gekannt oder zumindest nicht systematisch ausgewertet zu haben scheint (158). Görke weist in seiner Untersuchung nach, dass Abū ʿUbaid das Material weder erfunden noch willkürlich irgendwelchen Gewährsleuten zugeschoben hat. Als bedeutsames Moment für die Richtigkeit der Herkunftsangaben nennt Görke die Absicht eines Fälschers, bestimmte eigene Ansichten zu untermauern; jedoch sei das Kitāb al-Amwāl als ein iḫhtilāf-Werk angelegt, also eines der rechtlichen Meinungsvielfalt. Laut Görke geht dies soweit, dass Abū ʿUbaids eigene Position in der Darstellung der Behandlung eines rechtlichen Problems durch verschiedene Rechtsgelehrte dabei undeutlich bleibt (163). Als Ergebnis ist feststellbar, dass Abū ʿUbaid in diesem Buch Material festgehalten hat, dass um das Jahr 180 H. im Umlauf war. Es scheint den schrittweisen Übergang von einer freien zu einer wörtlichen Überlieferung zu spiegeln. In Kapitel 6 präsentiert Görke nochmals seine Schlussfolgerungen: Er hält es für sicher, dass das Kitāb al-Amwāl tatsächlich das Werk Abū ʿUbaids ist und nicht das Produkt einer längeren Schultradition. Er rechnet es zu den Spätwerken des Sunniten, auf jeden Fall nach 213 entstanden. Im Überlieferungsprozess des Werkes gab es nur noch geringe Veränderungen beim Handschriftenvergleich, einschließlich der Kapiteleinteilung und Auswahl und Anordnung des Materials (173). Es scheint über die Jahrhunderte hinweg mit nur sehr geringen Veränderungen weitergegeben zu sein; zusätzliche Randglossen Abū ʿUbaids scheinen ursprünglich als Randglossen gekennzeichnet gewesen zu sein. Die Zuverlässigkeit der Überlieferung des Kitāb al-Amwāl kann nicht grundsätzlich in Frage gestellt werden. Aufgrund der Rekonstruktion des ursprünglichen Textbestands liegt ein Werk in der Form und über weite Teile im Wortlaut vor, wie es um 215 verfasst wurde (183) und bietet damit einen Fixpunkt im Vergleich mit anderen Werken, deren Autorschaft nicht geklärt ist.
Auf Seite 7 fehlt in Zeile 5 zweimal das Komma um den Einschub, auf S. 17 fehlt das Komma vor "aber..." in Zeile 5 des 2. Abschnitts "Wörtliche oder organische Überlieferung?". Auf S. 175 Zeile 4 fehlt bei Abū ʿUbaid der Anfangsreibelaut bei ʿUbaid. Solcherlei Stellen gibt es mehrere, sie sind vermutlich darauf zurückzuführen, dass diese Studie in deutscher Sprache in den USA verlegt wurde. Der grundsätzlichen Qualität der Analyse tut dies keinen Abbruch. Die systematischen Überlieferungsstränge und -skizzen auf S. 46 (Handschriftenübersicht), S. 115 und S. 172 zeigen die akribische, systematische Auswertungsarbeit des Autors und bieten zugleich die historische Einordnung und Veranschaulichung für die Leserschaft. Nachdem Görke in seiner Untersuchung die Verlässlichkeit des Kitāb al-Amwāl von Abū ʿUbaid weitgehend abgesichert hat, liegt somit eine textgeschichtlich abgesicherte Grundlage für die weitere Erschließung dieser Epoche in rechts- und religionsgeschichtlicher sowie materialistisch-inhaltlicher Weise vor, auf die man guten Gewissens zurückgreifen kann. Sie verdeutlicht zudem, wie langsam und vorsichtig die geschichtliche Erforschung des frühen Islam vorangeht.
Assia Maria Harwazinski