Rezension über:

Volker Reinhardt: Der Göttliche. Das Leben des Michelangelo, München: C.H.Beck 2010, 381 S., ISBN 978-3-406-59784-8, EUR 24,95
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Rezension von:
Christine Demele
Beuys-Forschungsprojekt "Parallelprozesse", Düsseldorf
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Christine Demele: Rezension von: Volker Reinhardt: Der Göttliche. Das Leben des Michelangelo, München: C.H.Beck 2010, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 1 [15.01.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/01/17926.html


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Volker Reinhardt: Der Göttliche

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Schon zu Lebzeiten wurde Michelangelo Buonarroti auch "der Göttliche" genannt. Warum Volker Reinhardt im Titel seiner 2010 bei C.H. Beck erschienenen Künstlerbiografie auf diese Topik zurückgreift, bleibt allerdings offen. Denn das göttliche Genie des Michelangelo, der laut Giorgio Vasari mit seiner Kunst die Antike übertroffen hat, ist nicht das eigentliche Thema der Biografie. Der Autor bedient auch nicht den von Michelangelo selbst propagierten Mythos der vorgeblichen Mühelosigkeit und Uneigennützigkeit seines künstlerischen Schaffens sowie der angeblich zahlreichen Mußestunden, über die er laut Ascanio Condivi verfügt haben soll. Vielmehr thematisiert Volker Reinhardt die nicht weniger spektakulären Tatsachen: Michelangelo nahm in kürzester Zeit so viele Aufträge an, dass deren fristgerechte Erfüllung schlicht nicht zu bewältigen war, stellte etwa die Ausmalung der Sixtina-Decke nur unter großen körperlichen Qualen fertig und erhielt für damalige Verhältnisse immense Summen für seine Arbeit. "Il terribile" wurde Michelangelo auch genannt und das bezog sich nicht nur auf seinen schöpferischen furor. Den schwierigen Charakter des Künstlers bekamen neben Auftraggebern vor allem seine Verwandten zu spüren, die ihn als reizbar und mürrisch erlebten. Das geht aus zahlreichen Briefen hervor, die Volker Reinhardt als wichtige Quelle dienen: regelmäßig lässt er überzeugend interpretierte Zitate in den Text einfließen.

Der im Untertitel der Biografie, "Das Leben des Michelangelo", getroffene Verzicht auf das "Werk" kündigt bereits an, dass die Kunst nicht im Vordergrund stehen soll. Neue Erkenntnisse in diesem Bereich sind daher nicht zu erwarten. Das Hauptinteresse des Autors gilt stattdessen den familiären und politischen Netzwerken, in denen sich der Künstler bewegte. In deren Erforschung liegt sicher auch die Stärke der Biografie. Das Identitätsverständnis einer Person in der Renaissance gründete sich im Wesentlichen auf die gesellschaftliche Rolle, die sie einnahm. "Bei aller Individualität verstanden sich Menschen der Frühen Neuzeit in einem heute kaum noch nachvollziehbaren Maße als Teil eines Ganzen [...]." (21) Grundlegend für Michelangelos Selbstverständnis war daher seine familiäre Abstammung, die er auf den Adel zurückzuführen suchte. Man erfährt, wie der Künstler zeitlebens bestrebt war, die gesellschaftliche Position seiner Familie zu stärken, etwa durch Ankauf von Immobilien, und ihr, nicht zuletzt durch das Arrangieren vorteilhafter Eheschließungen, wieder zu einer bedeutenderen Stellung zu verhelfen. Michelangelo selbst lebte sehr asketisch und ließ das seine Verwandten immer wieder und stets in einem Ton wissen, der sie wohl abschrecken sollte, zu viel finanzielle Unterstützung von ihm zu erbitten. Das notarielle Verzeichnis, das nach seinem Tod angelegt wurde, listet an Möbeln lediglich Bettgestell, Schrank, Tisch und Stuhl auf. Unter dem Bett jedoch fand man eine Schatulle mit 9985 Dukaten, was 30 Kilogramm Gold entsprach beziehungsweise 2000 Jahreseinkommen eines gut bezahlten römischen Handwerkers. (360) Ungeachtet aller Klagen war Michelangelo längst zum Millionär geworden.

Die Biografie gliedert sich in fünf Hauptkapitel, die das lange Leben des Michelangelo in zahlreichen Unterkapiteln verhandeln. Das Buch ist mit 38 Farbtafeln und mit zahlreichen Schwarz-Weiß-Abbildungen ausgestattet. Die Bildunterschriften geben zwar meist nur unzureichend Auskunft über die Daten der Werke, wie Entstehungsjahr, Material und Maße, auch gibt es kein ausführliches Abbildungsverzeichnis zur Kompensation. Dafür sind sämtliche Abbildungen mit kurzen, erklärenden Texten versehen, die dem Leser zusätzliche Informationen liefern. Überzeugend ist der unprätentiöse, treffsichere Schreibstil. Die Besprechung der Kunstwerke gewinnt durch die Vorstellung von in der Regel mehreren Deutungsmöglichkeiten, die dem Leser Einblick in die Komplexität des Œuvres gewähren.

Ausführlich beschreibt Volker Reinhardt in jedem Kapitel den historischen Kontext und vermittelt auf diese Weise ein umfassendes Bild der politischen Verhältnisse der Zeit. So interessant diese Schilderungen sind, so dürften sich doch manche stattdessen eine eingehendere Charakterisierung des zeitgenössischen Kunstlebens, der künstlerischen Einflüsse und Wechselwirkungen wünschen. Die Konkurrenzsituation mit Leonardo da Vinci in Florenz zwischen 1501 und 1505 zum Beispiel, die sich nach Franz-Joachim Verspohl etwa in Michelangelos Tondi ablesen lässt und in der Ausstattung des Parlamentssaals ihren Höhepunkt erreichte, wird nicht eigens thematisiert. Dabei ergeben sich gerade hieraus auch wichtige Anhaltspunkte zur Klärung der aufgeworfenen Fragen nach dem Grund für die übermäßige Auftragsannahme in diesen Jahren und dem Status des "non finito". [1]

Abgesehen von wenigen vagen Behauptungen, wie etwa, dass Michelangelo ein Frauenverächter gewesen sei (212), gelingt dem Autor eine überzeugende Charakterstudie des legendären Künstlers, der unter Paul III. schließlich zum leitenden Architekten der "Fabbrica di San Pietro" aufstieg. Volker Reinhardt legt hier eine lebendig geschriebene, spannende Biografie vor, die es zu lesen lohnt.


Anmerkung:

[1] Vgl. Franz-Joachim Verspohl: Michelangelo Buonarroti und Leonardo da Vinci. Republikanischer Alltag und Künstlerkonkurrenz in Florenz zwischen 1501 und 1505, Göttingen / Bern 2007.

Christine Demele