Andreas Stirn: Traumschiffe des Sozialismus. Die Geschichte der DDR-Urlauberschiffe 1953-1990, Berlin: Metropol 2010, 814 S., ISBN 978-3-940938-79-4, EUR 29,90
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Zunächst nur wenig beachtet, rücken seit einigen Jahren verstärkt tourismusgeschichtliche Fragestellungen in den Fokus der DDR-Historiografie und etablieren "Tourismus" selbst als Analysekategorie. Die Geschichte der DDR-Urlauberschiffe ist dabei bislang jedoch unberücksichtigt geblieben. Andreas Stirn legt nun mit seiner Dissertation die erste wissenschaftliche Gesamtdarstellung zur Geschichte der DDR-Urlauberseefahrt vor. Auf gut 800 Seiten geht er dabei der Frage nach, wie die Bedeutung der drei Schiffe Völkerfreundschaft, Fritz Heckert und Arkona historisch zu bewerten ist. Obwohl ab 1960 insgesamt wohl nur etwa 280.000 Personen an Bord eines dieser drei Schiffe waren (und diese Zahl wohl noch weiter nach unten zu korrigieren ist), zeigt der Autor in seiner quellengesättigten Arbeit eindrucksvoll, dass es sich bei diesem Thema keineswegs nur um eine "maritime Fußnote" handelt (11). Die Schiffe waren auf ihre Art vielmehr integraler Bestandteil der Bemühungen zur Stabilisierung der SED-Herrschaft.
Aus einem "spezifischen, maritim-touristischen Blickwinkel" (11) geht Stirn den mannigfachen Paradoxien einer komplexen DDR-Sozialgeschichte nach. Er hat einen multiperspektivischen Zugang, indem er diktatorische Herrschaftsdurchsetzung ebenso zu berücksichtigen versucht wie Gesellschaftssteuerung mittels "gewinnender" wie repressiver Herrschaftsformen. Konsequent verfolgt er seine anfangs formulierten Leitfragen: Erstens die Rekonstruktion der Motive, die Schiffe zu betreiben; zweitens deren Betrieb unter den Voraussetzungen von Mangelwirtschaft und ökonomischen Zwängen sowie drittens die Durchsetzung des Kontroll- und Steuerungsanspruchs von Partei- und Staatsführung an Bord. Stirn versteht es, quellennah zu verdeutlichen, dass es sich bei den Schiffen weder um "totale Institutionen", noch um "Inseln der Absonderung" handelte (760). Politische Zielsetzungen standen nach Stirn stets über ökonomischen, technologischen und touristischen Überlegungen, d. h. die Schiffe waren immer mit einem "Parteiauftrag" ausgestattet. Der Verfasser versteht sie zum einen als Objekte der Propaganda, welche an die DDR-Bevölkerung gerichtete Botschaften transportierten. Dabei war die Breitenwirkung aufgrund aufwändiger medialer Vermittlung deutlich größer als die, die angesichts der geringen Zahl der verfügbaren Plätze aus realen Erfahrungen resultierte. Zum anderen waren sie Bedeutungsträger ideeller und ideologischer Botschaften zwischen Regime und Bevölkerung.
Im Folgenden können nur einige wenige Aspekte aus Stirns opulenter Arbeit genannt werden: Sehr detailliert beschreibt der Autor die anfänglichen Überlegungen zum Bau solcher Schiffe, ungeklärte Finanzierungsfragen und das Pendeln zwischen Forcierung und Distanzierung in einer Zeit "zwischen Zukunftshoffnung und Desillusionierung" (Kapitel 2). Den 13. August 1961 apostrophiert Stirn als eine eben auch für den See-Tourismus der DDR entscheidende Zäsur, da sich die Rahmenbedingungen der Passagierschifffahrt grundlegend änderten.
Nach dem Mauerbau sollten nach Möglichkeit nur staatstreue Reisende in den Genuss einer solchen Fahrt kommen. Stirn kann in diesem Abschnitt nachweisen, dass es eine enge Verknüpfung zwischen geheimdienstlicher Initiative und der Geschichte der Urlauberschiffe gab, was die überdurchschnittlich hohe IM-Dichte an Bord ebenso verdeutlicht wie die perfektionierten Auswahl- und Überwachungsmaßnahmen. All dies führte zu einem Rückgang der Flüchtlingszahlen - zwischen 1962 und 1989 flohen auf diesem Wege gerade einmal 225 Menschen. Diese geringe Zahl wundert kaum, legten die Schiffe doch bis 1985 abgesehen von wenigen Ausnahmen nicht mehr im westlichen Ausland an. Die Passagiere, die überhaupt an Bord durften, hatten außerdem zumeist nur "saubere" sozialistische Biografien (Kapitel 7). Sie waren in der Regel ausgestattet mit entsprechenden finanziellen Möglichkeiten sowie den teils auch "richtigen" Beziehungen und erfuhren die Reise in erster Linie als Honorierung ihres Wohlverhaltens, ihrer Loyalität und Leistungsbereitschaft. Die seit 1962 (bis 1989) geltende Finanzierungsregelung konterkarierte die Behauptung, dass die Schiffsreisen vor allem der Arbeiterklasse zu Gute kämen und Ausdruck von Gleichheit und Gerechtigkeit seien.
Dass das Unternehmen "Urlauberschiffe" nicht nur sicherheitspolitisch heikel, sondern ein äußerst kostspieliges Unterfangen war, zeigt der Verfasser im sechsten Kapitel seiner Darstellung. Zu den Vorzügen zählt dabei, dass der Grundwiderspruch zwischen hochambitionierten Vorstellungen der SED-Führung einerseits und den begrenzten ökonomischen Ressourcen andererseits sehr treffend beschrieben wird. Besonders der vehemente Einsatz Harry Tischs für eine Fortführung des Schiffstourismus und gegen die Kassandra-Rufe der Staatlichen Plankommission wird hier detailliert herausgearbeitet. Verschiede Versuche zur finanziellen Konsolidierung wie eine Vermietung an westliche Anbieter oder die Erhöhung der Ticketpreise konnten die Erwartungen nicht erfüllen; all dies trug eher dazu bei, dass der "Wert" der Schiffsreise bei der Bevölkerung sank und die Glaubwürdigkeit des Unternehmens "DDR als Kreuzfahrtnation" weiter untergraben wurde. Die Urlauberschiffe blieben bis zum Ende der DDR ein wichtiger Spiegel ihrer Ungleichheitsstrukturen und somit "Teil eines ungerechten Privilegiensystems" (765).
Ein abschließender Vergleich mit den nationalsozialistischen "KdF"-Urlauberschiffen drängt sich bei allen Wagnissen und Problemen solcher Vergleiche geradezu auf (Kapitel 11). Stirn verweist in einem abgewogenen Urteil neben frappierenden Ähnlichkeiten der Herrschaftstechniken zu Recht auf gewichtige Unterschiede vor allem hinsichtlich der Dimension von Terror und Gewalt, des Inhalts und der Form propagandistischer Inszenierung und deren Wirkung. Resümierend sieht er in den Urlauberschiffen der DDR trotz aller Parallelen "kein simples und lediglich schlecht ausgeführtes Plagiat ihres nationalsozialistischen Vorläufers" (756).
Alles in allem gelingt es Andreas Stirn in seiner lesenswerten und in weiten Teilen unterhaltsamen Dissertation überzeugend, die vielschichtige Wechselwirkung von Sozial-, Tourismus- und Politikgeschichte herauszuarbeiten. Sein multiperspektivischer Ansatz trägt dazu bei, die komplexe und widersprüchliche Realität der DDR-Seewirtschaft angemessen zu beleuchten und auch ihre Beschränkungen in den Blick zu nehmen.
Christoph Lorke