Bettina Brockmeyer: Selbstverständnisse. Dialoge über Körper und Gemüt im frühen 19. Jahrhundert, Göttingen: Wallstein 2009, 452 S., ISBN 978-3-8353-0500-7, EUR 39,90
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Die Geschichte der Homöopathie ist nicht allein deswegen interessant, weil sich diese Heilmethode zunehmender Beliebtheit erfreut, sondern auch, weil ihr Begründer Samuel Hahnemann im frühen 19. Jahrhundert medizinische Traditionsbestände reanimiert (und transformiert) hat, die aufgeklärt Denkende für glücklich überwunden hielten. Mit ihrem Prinzip "similia similibus curentur" ist die Homöopathie zu einem zentralen Bestandteil der Geschichte paracelsischen Denkens in der Moderne geworden, und zugleich erzählt ihre Geschichte von der beständigen Infragestellung ihrer Wirksamkeit.
Diese Kritik wurde vor allem auch an der Person Hahnemanns geübt, und dies nicht allein von den Gegnern der Homöopathie, sondern auch von ihren Anhängern: von Kollegen ebenso wie von Patientinnen und Patienten jenes Arztes, der sich selbst als Prophet und Reformator überhöhte und eine Exklusivität des Wissens beanspruchte, die jene, die seinen Rat suchten, keineswegs immer unterschrieben. Dem, der zu heilen versprach, konnten sie auch die Schuld geben am eigenen schlechten Befinden.
Dies erfährt, wer neben den präskriptiven Schriften und der medizinischen Debatte über Krankheiten auch die Perspektive der Kranken in den Blick nimmt: Wer, wie es Bettina Brockmeyer in ihrer Kasseler Dissertation tut, die zahlreichen Patientenbriefe liest, die um 1830 an Hahnemann adressiert waren, die schriftlichen Anamnesegespräche gewissermaßen, sowie weitere autobiographische Texte im unmittelbaren Umfeld. Und er erfährt dabei noch mehr: Brockmeyer fragt immer wieder nach Prozessen der Selbstkonstituierung im regelgeleiteten Schreiben über eigene körperliche und seelische Befindlichkeiten. Das Buch untersucht die Anfänge homöopathischen Denkens und Handelns anhand von autobiographischen Texten - auch wenn es sich selbst als eine Geschichte der "verschiedene[n] Formen von Subjektivitäten" [sic] im 19. Jahrhundert präsentiert, geschrieben anhand von Dokumenten "aus dem Kontext der Homöopathiegeschichte" (7f.).
Nach einem Überblick über den zeitgenössischen "bunten Jahrmarkt" (51) medizinischer Konzepte und Heilmethoden stellt die Arbeit die Grundlagen der Homöopathie vor, deren Anthropologie der vitalistisch-animistisch begründeten Einheit von Körper und Geist und dem Prinzip der "Lebenskraft" einen zentralen Stellenwert zuschrieb und deren Therapie, dem Ähnlichkeitsprinzip geschuldet, nicht an Ursachen ansetzte, sondern an Symptomen: an den Zeichen der Krankheit. Die Studie zeigt, dass in der Arbeit an der eigenen Gesundheit, in der teilweise bemerkenswert offenen Thematisierung von Sexualität und in der Kommunikation zwischen Arzt und Patientin dichotomische Geschlechtermodelle der Zeit partiell überwunden werden konnten. Sie zeigt, dass der Diskurs homöopathischer Diätetik zwar kein diszipliniertes und selbstreguliertes Subjekt hervorgebracht hat, wohl aber die Möglichkeit, an den diätetischen Anforderungen zu scheitern: für die eigene Krankheit nicht nur den Homöopathen zur Verantwortung zu ziehen, sondern auch die eigene unmoralische Lebensführung. Die Studie zeigt, dass in den Beschreibungen von Ausscheidungen von einer zivilisatorischen Errichtung von Schamschwellen nichts zu spüren ist, und sie zeigt, dass noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Art und Weise des Sterbens als Spiegel des Lebens erschien.
In diesem Zusammenhang arbeitet Brockmeyer auch die religiösen Dimensionen homöopathischen Denkens heraus. Diese verdankten sich neben der ganzheitlichen Vorstellung von einem geistdurchwirkten Körper auch der Person Samuel Hahnemanns, der sich nicht allein als Therapeut von Körper und Psyche verstand, sondern stets auch als Beichtvater. Seine Patientinnen und Patienten sahen keinen Widerspruch darin, sich Gott und der Medizin zugleich anzuvertrauen: Gott als einem Arzt und dem Arzt als einer gottgleichen Instanz. Homöopathie präsentierte sich selbst als ein Glaubenssystem und seine Anhänger als Bekehrte. Religiöses Heil und medizinische Heilung waren auch um 1830 nicht zu trennen. Hier zeigt sich einmal mehr: Religion und Moderne bilden keinen Widerspruch.
Anders als Brockmeyer meint, wird dadurch jedoch nicht gleich auch die epochale Trennung von Moderne und Vormoderne "obsolet" (242, 256). Gerade weil diese Epochalisierung ihren Ursprung in der hier untersuchten Zeit hat, erleichtert sie, wenn sie heuristisch verstanden wird, historische Differenzierungen, die bei Brockmeyer verloren gehen. So wäre etwa genauer zu fragen, was die Hahnemann'sche Homöopathie vom frühneuzeitlichen Paracelsismus unterscheidet, den sie in Teilen wiederbelebt; denn dies schlägt auch auf die historische Verortung der hier verhandelten Selbstkonstitutionsprozesse durch. Wo Brockmeyer diese Prozesse in den Blick nimmt, trennt sie zwar zwischen modernen und vormodernen Denkweisen, tut dies aber nicht heuristisch, sondern im Sinne eben jenes aufklärerischen Selbstverständnisses, dem die Unterscheidung ihre Genese verdankt: Obwohl die Verfasserin es zu Recht ablehnt, Religion als per se rückwärtsgewandt zu betrachten, macht sie in vormoderner Religiosität eine Passivität des Selbst aus, die sie in modernen Konzepten religiös basierter Subjektivität um 1800 zu mündiger Aktivität überwunden sieht (241-244, 256, 390). Das personale Verhältnis zu Gott wurde jedoch auch in der Frühen Neuzeit als zentraler Bestandteil von Selbstkonstitutierung beschrieben, nur basierte es auf Konzeptualisierungen von Körper und Geist und vom Innen und Außen der Person, die den kategorialen Vorgaben von autonomer Subjektivität und der Integrität eines psychophysisch abgeschlossenen und essentialisierten "Selbst" noch nicht gehorchten. Die Verfasserin hat Recht: Die über sich selbst schreibende Instanz konstituierte sich immer auch in ihrer Beziehung zu Gott; entscheidend jedoch ist, auf welche Weise dies jeweils geschah. Da Brockmeyer den Begriff der (autonomen) Subjektivität, anderslautenden Bekundungen zum Trotz, letztlich nicht historisiert, vermag sie die in deren Verhältnis zur Religion enthaltenen Paradoxien analytisch nicht wirklich fruchtbar zu machen. Mit der Subjektivität wird so auch das "Selbst" der Geschichtlichkeit enthoben, insbesondere dort, wo die Verfasserin konstatiert, dass es seine Einheitlichkeit und Zentriertheit verliere - sei es in der Beziehung zu Gott (171, 184, 235f., 244), in der "rituell" formelhaften und "gebetsartigen Wiederholung" religiöser "Sprech- oder Schreibweisen" (183, 253) oder in brieflich-dialogischem Gespräch und sozialen Beziehungen: als "Kontext-Selbst", oder pluralisiert: als "eine Variation von variablen 'Selbsten'" (208).
Spätestens hier zeigt sich: Die Aussagen dieses Buches lassen sich kaum zu einem stimmigen Ganzen zusammenfügen. Seine Ergebnisse und deren Reichweite werden nicht hinreichend fassbar, zentrale Begrifflichkeiten werden vielfach in unklarer und inkonsistenter Weise verwandt. Es wird am Ende nicht ersichtlich, worin die (historische) Selbstkonstituierung der homöopathischen Patienten ebenso wie ihre (an sich zu Recht unterstellte) Sprachlichkeit genau bestehen. Darüber hinaus erschweren gravierende Mängel im sprachlichen Ausdruck und einige grammatikalische Fehler die Lektüre eines Buches, das ein sehr interessantes Thema anhand eines sehr aufschlussreichen Quellenbestandes behandelt.
Andreas Bähr