Wolfgang Rascher / Renate Wittern-Sterzel (Hgg.): Geschichte der Universitäts-Kinderklinik Erlangen, Göttingen: V&R unipress 2005, 375 S., ISBN 978-3-89971-205-6, EUR 44,90
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Der von Rascher und Wittern-Sterzel herausgegebene Sammelband vereinigt Beiträge von sieben Autorinnen und Autoren zur Geschichte der Erlanger Universitäts-Kinderklinik. Dabei wird, wie Dieter Harms einleitend "Zur Lektüre des Buches" deutlich macht, von dem Anspruch ausgegangen, "wesentliche Einflussfaktoren" herauszuarbeiten, die "Struktur und Funktion einer Universitäts-Kinderklinik" bestimmen. Als besonders prägende Faktoren werden genannt "die Entwicklung der Bevölkerungsstruktur, die allgemeinen Lebensbedingungen, der erreichte Hygienestandard, der Wandel im Spektrum der Krankheiten als Folge geänderten gesellschaftlichen Lebens wie auch medizinischen Fortschrittes und aktuell das neue Gewicht der Ökonomie". Es sollen somit am Erlanger Beispiel grundsätzliche, Struktur und Funktion einer Universitäts-Kinderklinik bestimmende Entwicklungsbedingungen im Kontext von Kultur und Gesellschaft sowie deren sozialen Verhältnissen und normativen Vorentscheidungen analysiert und verstanden werden.
Eröffnet wird die Artikelfolge mit einem Beitrag "Zur Geschichte der Kinderheilkunde", in dem Renate Wittern-Sterzel, Medizinhistorikerin der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, den Umgang mit dem kranken Kind in der Geschichte der Medizin von der Antike bis zum Ende des 19. Jahrhunderts verfolgt. Ihr Beitrag beschränkt sich auf den wissenschaftshistorischen Aspekt der Kinderheilkunde, referiert die Kindern und deren Krankheitszuständen gewidmeten Abhandlungen in chronologischer Reihenfolge und gibt somit einen Überblick über die historische Literatur der Zeit, bevor die Kinderheilkunde unter dem technischen Imperativ der modernen Medizin zu einem von der Inneren Medizin losgelösten Spezial- und akademischen Prüfungsfach geworden ist. Abgeschlossen wird dieser Beitrag mit einer Darstellung der Entwicklung der universitären Pädiatrie in Erlangen bis zum Ende des 19. Jahrhunderts.
Die folgenden Arbeiten sind den leitenden Ärzten der Erlanger Universitäts-Kinderklinik gewidmete Ergobiografien. Manuela Zapf beschreibt Leben und Werk von Friedrich Jamin (1872-1951) und damit zugleich den Prozess der Verselbstständigung der Pädiatrie gegenüber der Inneren Medizin. Dagmar Bussiek setzt sich mit Albert Viethen (geb. 1897), der die Erlanger Kinderklinik während der NS-Diktatur leitete, auseinander und geht dabei ausführlich auf die "Euthanasie"-Morde an Kindern während des Zweiten Weltkriegs sowie auf die Frage der Aufarbeitung der NS-Zeit nach 1945 ein. Besonders verdienstvoll ist, dass die Autorin dabei das Leben der 20 Kinder dokumentiert, die während des Zweiten Weltkriegs aus der Erlanger Kinderklinik in die Kinderspezialabteilung Ansbach überwiesen und dort ermordet worden sind. Die Nachkriegszeit ist Thema der Arbeit von Christian A. Rexroth, in der Leben und Werk von Alfred Adam (1888-1956) im Vordergrund stehen. Im Anschluss daran porträtiert Friedrich Carl Sitzmann den Klinikdirektor Adolf Windorfer (1909-1996). Die Reihe der Ergobiografien wird zeitgeschichtlich ergänzt und abgeschlossen, indem der derzeitige Direktor der Erlanger Kinderklinik, Wolfgang Rascher, mit seinem Vorgänger, Klemens Stehr, ein Interview führt und anschließend "Perspektiven der Kinder- und Jugendmedizin" aufzeigt.
Der Sammelband bietet somit einen materialreichen Überblick über die Geschichte der Pädiatrie am Beispiel der Erlanger Universitäts-Kinderklinik. Misst man Inhalte und methodische Vorgehensweise aber an dem anfangs zitierten Anspruch, so wird, auch das muss gesagt werden, deutlich, dass das Buch diesem Anspruch nicht gerecht wird. Es ist, mit Ausnahme des wissenschaftshistorischen Beitrags von Renate Wittern-Sterzel, eine narrative Darstellung des pädiatrischen Teils der Erlanger Fakultäts- und universitären Baugeschichte, in der die Frage nach dem kultur- und sozialhistorischen Kontext der berichteten Ereignisse unberücksichtigt bleibt.
Josef N. Neumann