Akira Iriye / Pierre-Yves Saunier (eds.): The Palgrave Dictionary of Transnational History. From the mid-19th century to the present day, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2009, XLI + 1226 S., ISBN 978-1-4039-9295-6, GBP 150,00
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In der Regel geben Handbücher und Nachschlagewerke konsensfähiges Wissen auf der Basis gesicherter Forschung wieder. Das Palgrave Dictionary of Transnational History weicht von diesem Muster ab. Es will Forschung befruchten und müsste, so die Herausgeber, eigentlich das "Tentative Dictionary of Transnational History" heißen (XIX). Weder war Vollständigkeit ein Kriterium der Auswahl, noch wurde Ausgewogenheit angestrebt. Angesichts der Herausforderung, 1.500 ursprünglich geplante Beiträge auf über 400 zu reduzieren, machten die Herausgeber aus der Not eine Tugend. Experimentelle Beiträge werden bevorzugt, Mut zur Lücke gezeigt. So gibt es z.B. Beiträge zu "Swiss Banks" und zu der für ihre lokalisierende Werbekampagne berühmt gewordenen "Hong Kong and Shanghai Banking Corporation" (HSBC, "Never underestimate the power of local knowledge"), aber keine weiteren Beiträge zu Banken, weder zu den führenden britischen und amerikanischen Investmentbanken, noch zu den großen deutschen und französischen Geldhäusern, die seit dem 19. Jahrhundert als Agenten der Globalisierung wirkten. Auch Kreditkarten, die als individuelles Zahlungsmittel von Menschen in den unterschiedlichsten kulturellen Kontexten verwendet werden können oder die in der islamischen Welt gebräuchlichen nicht-monetären Überweisungssysteme bleiben unerwähnt. Vielleicht liegt dies daran, dass das Palgrave Dictionary wirtschaftsgeschichtliche Themen gegenüber kulturellen Faktoren insgesamt weniger stark gewichtet.
Eine andere sofort ins Auge fallende Ungereimtheit ist ein Beitrag zum Koran, während die Bibel als Anhang zum Artikel über "Publishing" mit behandelt wird. Eine wirklich erstaunliche Lücke aber ist der fehlende Beitrag zu Europa (das nur in der verkürzten Variante der europäischen Institutionen vorkommt) und zu Lateinamerika, während "America" (was sich als Beitrag exklusiv zu den USA entpuppt), "Africa" und "Asia" über eigene Artikel verfügen. Der Artikel zu "History" wiederum beschäftigt sich exklusiv mit transnationaler Geschichte, was doch eine arge Verkürzung darstellt. Diese Lücke wird durch einen Beitrag zu "historians and the nation state" partiell wieder ausgeglichen. In einem Projekt, das sich als Baustein zu einer nicht-hegemonialen Weltgeschichte versteht, vermisst man aber doch ein Wort zur Interaktion nicht-westlicher und westlicher Historiographie. Des Weiteren werden unter den Diasporas die chinesische und die libanesische Diaspora mit jeweils eigenem Artikel gewürdigt. Die vermutlich älteste und weltweit einflussreichste, nämlich die jüdische Diaspora, findet ebenso wenig Erwähnung wie die armenische, griechische usw.; für "Crime" gibt es einen Artikel, die "Mafia" als das prototypische transnationale kriminelle Netzwerk wird nicht einmal im Index erwähnt.
So könnte noch weiter fort gefahren werden. Doch wäre es beckmesserisch, auf diese Weise den experimentellen Charakter des Palgrave Dictionary of Transnational History kleinzureden. Denn es geht den Herausgebern in erster Linie darum, in einem dynamischen und daher insgesamt recht ungleichgewichtig erforschten Feld zu weiteren Arbeiten anzuregen. Daher verließen sich die Herausgeber auf ihr eigenes Netzwerk und darauf, wo sich für Einträge Autoren und Autorinnen fanden. Einzelne Phänomene wurden ganz bewusst über individuelle Ausprägungen erschlossen. So ist zum Beispiel das "Automobil" nicht mit einem eigenen Eintrag vertreten. Stattdessen wird auf die Artikel "assembly line", "car culture", "car safety standards", "industrial organization" usw. verwiesen. Wie bei jedem guten Lexikon kann sich der Leser durch Querverweise vorwärts und rückwärts durch den Band führen lassen. Hilfreich beim systematischen Kreuz- und Querlesen sind auch die exzellenten Personen- und Sachindizes, die das Palgrave Dictionary in der Tiefe sehr gut erschließen.
Besonders innovativ sind die sachbezogenen Baumdiagramme, die die Herausgeber als Wegeweiser durch das Dickicht der 400 Einträge entwickelt haben, um ein nicht-lineares, strukturiertes Lesen zu ermöglichen. Anhand dieser Diagramme lassen sich zentrale Kategorien transnationaler Geschichte über die verschiedenen Einträge in ihren zahlreichen Verästelungen verfolgen (z.B. People flows --> human mobility --> forced migrations --> exile --> refuges --> displaced persons; oder People flows --> human mobility --> transportation infrastructures --> steamships). Diese Graphiken wollen keine Hierarchien etablieren. Doch implizit stellen die Herausgeber durch die Auswahl der Oberbegriff eine These über die zentralen Felder der transnationalen Geschichte auf. Die Diagramme ordnen die Einzelbeiträge insgesamt 10 Feldern zu: "People flows", "World order and disorder", "Words, sounds, images", "Production and trade", "Planet Earth", "Space and Time", "Body and soul", "Concepts and processes", "Groups and causes", "Knowledge". Dies unterstreicht noch einmal die relative Bevorzugung von "soft power", d.h. kultureller und intellektueller Geschichte, gegenüber wirtschaftsgeschichtlichen und politischen Themen (politische Interaktion wird wie bei der transnationalen Geschichte üblich wesentlich über soziale Bewegungen und Akteure erschlossen, nicht über Haupt- und Staatsaktionen wie z.B. die Weltwirtschaftsgipfel).
Das Palgrave Dictionary of Transnational History vermittelt einen Eindruck davon, welche methodischen, intellektuellen und politischen Herausforderungen eine nicht-hierarchische, nicht-lineare Weltgeschichte an die Historiographie stellt. Als Beispiel dienen mir die Artikel "Genocide" und "Holocaust". Beide Beiträge starten mit einer Begriffsdefinition. Der Artikel zum Genozid (von Mark Levene) verweist auf die juristische Verwendung des Terminus in internationalen Konventionen, aber problematisiert nicht die Ursprünge universalisierender Begriffe in westlichen Rechtstraditionen. Genozidale Ereignisse in der Geschichte werden breit gefasst; Kriege, der perzipierte Kosmopolitismus der Opfergruppen, (überwiegend europäischer) Imperialismus als von der Forschung identifizierte Ursachen diskutiert. Der Artikel endet mit der Feststellung, dass angesichts der Beharrungskräfte des Nationalstaates die Gefahr von Genoziden vor allem gegen "transnationale Minderheiten" nach wie vor hoch bleibe. Das impliziert eine positive Wertung des Transnationalen, keine analytische Verwendung des Begriffes. Der Eintrag zum Holocaust (von Peter Fritzsche) sieht den Holocaust primär als zentralen Topos einer globalen Erinnerungskultur, nicht zuletzt aufgrund der Vergleichsmöglichkeiten zwischen der "Endlösung" und jüngeren Genoziden in postkolonialen Kontexten wie etwa dem in Ruanda. Dass die Leugnung des Holocaust ebenfalls ein globales oder transnationales Phänomen ist, bleibt unerwähnt. Auch wird nicht gefragt, inwiefern der Holocaust als historisches Ereignis transnationale Beziehungen hervorrief, festigte oder auch behinderte. Hier werden, wie in nicht wenigen anderen Beiträgen des Bandes, die Ambivalenzen des Transnationalen weniger betont als die Chancen.
Ein weiterer, bei einem Handbuch zu einem extrem dynamischen Forschungsfeld vermutlich kaum zu vermeidender Kritikpunkt ist, dass manche Einträge den Forschungsstand nicht mehr widerspiegeln und das Palgrave Dictionary zum Zeitpunkt der Drucklegung zum Teil schon veraltet war. Die Texte wurden wohl in der ersten Hälfte der 2000er-Jahre verfasst und zitieren überwiegend Literatur aus den späten 1990er Jahren oder dem frühen 21. Jahrhundert. Das wirft die grundsätzliche Frage auf, wie viel Sinn gedruckte Handbücher noch machen. Müsste nicht ein Werk von der Qualität und dem Anspruch des Palgrave Dictionary of Transnational History parallel oder alternativ auf eine dynamische Internet-Präsenz setzen, wie dies etwa die "Dokupedia Zeitgeschichte" [1] tut?
Der vorliegende Band ist ein profundes und in der Lektüre anregendes Werk. Es zeigt indes, dass das Genre des gedruckten historischen Wörterbuchs an seine Grenzen stößt, wenn selbst ein Mammutwerk von 1200 Seiten die Forschung nicht mehr gesichert abbilden kann. Der Band wird, auch wegen des prohibitiven Ladenpreises, vermutlich ein Nischenprodukt bleiben. Da nicht nur die Lesegewohnheiten unserer Studierenden sich ändern, wäre eine begleitende digitale Plattform dringend zu wünschen gewesen. Dies würde auch erlauben, weitere Beiträge zu rekrutieren bzw. die bestehenden kontinuierlich zu aktualisieren und zu ergänzen. Dennoch handelt es sich hier um ein nützliches und intellektuell herausforderndes Werk, das in jede Bibliothek gehört und dem als Referenzpunkt künftiger Forschungen sein gebührender Platz zu wünschen ist.
Anmerkung:
[1] Vgl. dazu URL: http://www.docupedia.de. Zur transnationalen Geschichte dort Philipp Gassert: Transnationale Geschichte (letzte Version: 16. Februar 2010), URL: http://www.docupedia.de/zg/Transnationale_Geschichte
Philipp Gassert