Christoph Dartmann / Günther Wassilowsky / Thomas Weller (Hgg.): Technik und Symbolik vormoderner Wahlverfahren (= Historische Zeitschrift. Beihefte. Neue Folge; Bd. 52), München: Oldenbourg 2010, VII + 221 S., ISBN 978-3-486-59654-0, EUR 44,80
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Die neuere Forschung zu vormodernen Wahl- und Abstimmungsverfahren war, nachdem die klassische Politikgeschichte lange Zeit nur die instrumentelle Seite des Verfahrens thematisiert hatte, unter den Vorzeichen einer "Neuen Politikgeschichte" bzw. einer "Kulturgeschichte des Politischen" häufig von Fragen nach der symbolischen Form von Wahlen bestimmt. Diese Perspektive ging stellenweise so weit, dass die Verfahrensdimension weitgehend aus dem Gesichtsfeld geriet und vormoderne Wahlen zu allein legitimität- und identitätstiftenden Ritualen mutierten. Seit einiger Zeit ist nun, auch über das engere Forschungsfeld hinaus, eine Gegenbewegung feststellbar, die - ohne die zweifellos reichhaltigen Ergebnisse neuerer Forschungsansätze aufzugeben - versucht, die beiden Seiten vormoderner Wahlen gemeinsam zu betrachten. Diesem Ansatz ist auch der vorliegende Sammelband, der aus einem vom Münsteraner Sonderforschungsbereich 496 veranstalteten Kolloquium hervorgegangen ist, verpflichtet.
In seiner "Einleitung" (1-16) geht Thomas Weller von der legitimitätsstiftenden Funktion von Wahlen aus. Dieses Konzept, das eng mit Luhmanns Arbeit zu "Legitimation durch Verfahren" verbunden ist, betont für Verfahren in modernen funktional differenzierten Gesellschaften Ergebnisoffenheit und Verfahrensautonomie als zentrale Aspekte. Für die Vormoderne sind beide Kategorien bekanntlich schwierig. Unter Einbezug der Forschungsgeschichte formuliert Weller zum einen die Frage, welche Bedeutung außerhalb des Verfahrens liegenden Faktoren für die Herstellung von Legitimität in der Vormoderne zukommt, zum anderen die nach dem Verhältnis von technisch-instrumentellen und symbolischen Elementen vormoderner Wahlverfahren. Die folgenden neun Beiträge verfolgen diese Fragestellungen von der Antike bis in die Frühe Neuzeit, auf der auch der Schwerpunkt des Sammelbandes liegt.
Den Anfang macht Martin Jehne, der in seinem Beitrag "Die Dominanz des Vorgangs über den Ausgang. Struktur und Verlauf der Wahlen in der römischen Republik" (17-34) untersucht, welche Rolle die Wahl für den Kandidaten, die Wähler und das politische System spielte. Ausgehend von dem Bericht zur Wahl Caesars zum pontifex maximus zeigt Jehne, dass der Wahlausgang zwar für den einzelnen Kandidaten von hoher Bedeutung war, bei den Wählern die Präferenzen hingegen nur gering ausgeprägt waren, und damit die Frage, wer aus der Gruppe der Aristokraten tatsächlich gewählt wurde, solange keine Klientelbeziehungen bestanden, weitgehend unerheblich war. Auch für das System hält Jehne den Wahlausgang insofern für wenig relevant, als sämtliche Kandidaten über die benötigten Fähigkeiten verfügten, es zudem keine programmatischen Unterschiede zwischen ihnen gab. Jehne sieht demzufolge die Funktion der Wahlen vor allem in der Integration der Gesellschaft und betont zugleich die egalitäre Symbolik der Tribut- und die Darstellung von Hierarchien innerhalb der Centuriatcomitien.
Hagen Keller beschäftigt sich mit "Wählen im frühen Mittelalter" (35-52): Anhand von zwei Beispielen - der Wahl Ruodungs zum Abt des Klosters Ottobeuren 973 und der Königswahl Konrads 1024 - arbeitet Keller zentrale Eigenschaften mittelalterlicher Wahlen heraus. Er zeigt dabei eine Einteilung des Verfahrens in zwei Phasen, wobei in der ersten innerhalb eines kleinen Kreises Konsens hergestellt, in einer zweiten Phase der Kreis der Beteiligten ausgeweitet wurde. Deutlich hebt der Verfasser auch die Unterschiede zu modernen Wahlen hervor: Werden hier Gegensätze abgebildet und Konflikte zum Ausdruck gebracht, so war im Untersuchungszeitraum die Wahl, die Widersprüche zum Ausdruck brachte, gescheitert. Ziel der Wahl war die Darstellung von Einmütigkeit. In dem in der ersten Phase hergestellten Konsens manifestierte sich der Wille Gottes. In der zweiten Phase wurde die transzendente Grundlage der Legitimität der Entscheidung dann zum Ausdruck gebracht.
Dort, wo Personalentscheidungen nicht durch Akklamation, sondern durch Wahlverfahren hergestellt werden, entstehen Wahlverlierer. Der Umgang mit der Niederlage in der mittelalterlichen Stadt ist das Thema von Christoph Dartmann ("Eine Kultur der Niederlage? Wahlen in der italienischen Stadt des Hoch- und Spätmittelalters" (53-70)). Bischofswahlen in Mailand und Wahlen zur Stadtregierung im mittelalterlichen Florenz dienen als Beispiele dafür zu zeigen, wie versucht wurde, öffentliche Niederlagen zu vermeiden, wie die Brisanz von potentiellen Niederlagen für die z.T. umfangreichen informellen Verhandlungen im Vorfeld verantwortlich war und wie man Entscheidungen gegebenenfalls delegierte und dabei sogar ungewünschte Ergebnisse in Kauf nahm, um den gesellschaftlichen Grundkonsens nicht zu gefährden.
Damit eine Wahl ihre Funktion erfüllen kann, muss sie durch Festlegung von Verfahren gegen verschiedene Störungen, wie Unregelmäßigkeiten bei der Stimmabgabe, Manipulationen bei der Auszählung der Stimmen oder der Ausübung von Gewalt gegen Wähler und Kandidaten abgesichert werden. Diesen Problemen wendet sich Stefanie Rüther in ihrem Beitrag "Eine sichere Wahl? Geleit, Verfahren und Versprechen in der spätmittelalterlichen Königswahl" zu (71-94). Mit der Entwicklung von der Akklamation zur Kur wurde die Auswahl der Wähler zunehmend zum Problem, und zwar nicht nur für die Wähler selbst, sondern ebenso für den Kandidaten, der sich im Vorfeld der Wahl um die Unterstützung durch die Wähler kümmern musste. Rüther betont, dass die Verwendung von Mehrheitsverfahren eng an die Begrenzung des Kreises der Wahlberechtigten gekoppelt ist. In der Folge behandelt sie das 1. Kapitel der goldenen Bulle und thematisiert die Bedeutung der körperlichen Sicherheit der Akteure und der Rolle physischer Auseinandersetzungen als "Fortführung des [...] Wahlentscheids" (85). Am Beispiel der Wahl König Sigmunds demonstriert die Verfasserin abschließend, welche Rolle das Zusammenspiel einzelner Verfahrenselemente für die Legitimität des Wahlverfahrens spielte.
Bei dem Beitrag von Gerd Schwerhoff handelt es sich um eine mikrohistorische Studie zur Rolle von Wahlen im Leben des Kölner Ratsherrn Hermann von Weinsberg ("Wahlen in der vormodernen Stadt zwischen symbolischer Partizipation und Entscheidungsmacht. Das Beispiel des Kölner Ratsherrn Hermann von Weinsberg (1518-1597)") (95-116). Nach einem Forschungsüberblick zum Problem vormoderner Wahlen wendet sich der Verfasser den Wahlen in Gaffel und Zunft (99-105) sowie Bruderschaft und Kirchspiel (105-107) zu. Insgesamt stellt Schwerhoff Weinsberg als Vertreter eines Systems dar, das eine Vielzahl von Wahlen kannte, die in z.T. aufwendigem Verfahren absehbare Ergebnisse produzierten. Durch Voraussetzungen wie Eignung und gleichzeitige Abkömmlichkeit war die Zahl der Bewerber häufig gering. Gleichwohl betont Schwerhoff, dass sich die Kölner Wahlen nicht auf ihren normativen Gehalt reduzieren ließen, sondern durch sie Entscheidungen getroffen wurden, und fordert die Integration harter und weicher Faktoren bei der Analyse vormoderner Wahlen.
Nachdem in Spanien 1538 die ersten beiden Stände zum letzten Mal zu einer Ständeversammlung geladen wurden, waren es seit Karl V. nur noch die Vertreter der Städte, die die Mitglieder der Versammlung stellten. Schon unter den Zeitgenossen bot die Art, wie diese bestimmt wurden, Anlass zur Kritik. Seit dem 16. Jahrhundert setzte sich das Los- gegenüber dem älteren Wahlverfahren zunehmend durch. Thomas Weller geht es in seinem Beitrag "Repräsentation per Losentscheid. Wahl und Auswahlverfahren der procuradores de Cortes in den kastilischen Städten der frühen Neuzeit" (117-138) um die Erklärung dieses Phänomens. Nachdem zunächst Sonderfälle wie Burgos (124-128) und Valladolid (128) behandelt werden, wendet sich Weller dem Regelfall zu: Seit der 2. Hälfte des 16 Jahrhunderts entschied das Los, wer die Stadt bei der Ständeversammlung vertreten sollte, wobei die Verfahren die hierarchischen Strukturen innerhalb der Elite abbildeten, zugleich die Hierarchie den Ausgang der Wahl präjudizierte. Das Ziel des Verfahrens lag dabei - laut Weller - in der Ausschaltung externer Einflüsse sowie der Sicherstellung und Darstellung der Chancengleichheit der Bewerber, was besonders in Zeiten zunehmender Spannungen innerhalb der Städte von Bedeutung war. Dabei hatte das Verfahren Nachteile: Neben die fehlende Möglichkeit der Stadträte, auf die Auswahl der Bewerber Einfluss zu nehmen, was z.T. wiederum Auswirkungen auf die Eignung besaß, trat eine weitere Schwierigkeit: Die procuradores verkörperten das Reich. Die Auswahl per Losentscheid eignete sich aber gerade nicht, Repräsentanten auszuwählen.
Um "Werte und Verfahrenswandel bei den Papstwahlen in Mittelalter und Früher Neuzeit" (139-182) geht es Günther Wassilowsky. Ausgehend von der Feststellung, dass bei kirchlichen Wahlen die Form des Verfahrens zumindest einmal religiös legitimiert werden muss, um - dann immer wieder - legitime Ergebnisse hervorzubringen - ein Prozedere, das aber nur solange funktioniert, wie die zugrundeliegende religiöse Vorstellung Gültigkeit beanspruchen kann -, untersucht Wassilowsky die Verfahren zur Papstwahl vor und nach der Konklavereform Gregors XV. Wassilowsky zeichnet zunächst die Entwicklung der Skrutinalwahl nach, die sich von einer mündlich geflüsterten Befragung über die Wahl durch Stimmzettel - bei der aber die Auszählung offen und mit Namensnennung erfolgte - zur geheimen Stimmzettelwahl entwickelte. Wassilowsky interpretiert die zunächst geheime Form der Stimmabgabe als Möglichkeit, ein Reagieren im Verlauf der Stimmabgabe unmöglich zu machen. Die in der 2. Phase vorhandene Öffentlichkeit durch Nennung von Wählernamen erklärt er damit, dass damit dem Prinzip der sanioritas Genüge getan werden sollte (161). Im Folgenden wendet sich Wassilowsky einer Verfahrensform zu, die zwar niemals als Norm festgelegt wurde, durch die aber tatsächlich zwischen 1488 und 1621 die meisten Päpste ihr Amt erreichten: die Adorationswahl. Wassilowsky zeigt plausibel, wie die Form des Verfahrens der Klientelstruktur des frühneuzeitlichen Papsthofes entsprach. Die Wahl stellte dabei zum Ersten eine Entscheidung her - sie machte einen der Kardinäle eben zum Papst -, diente zum Zweiten der Dar- und Herstellung von Treuebeziehungen und zum Dritten wies sie über sich selbst hinaus und auf "die fundamentalen Werte- und Ordnungskategorien des soziokulturellen Systems Rom in seiner Gesamtheit" (172). Die Konklavereform Gregors setzte, wenn sich ihre Normen auch erst mit der Zeit durchsetzen sollten, ein schriftliches Skrutinalverfahren an die Stelle der Adorationswahl. Dieses Verfahren, das auf Mehrheitsentscheidung, Geheimhaltung, räumlich-zeitliche Abgrenzung der Wahl und Gleichheit des Wahlkörpers setzte, war vor allem dazu gedacht, die Macht des Kardinalnepoten zu begrenzen.
Auch in dem Beitrag von Hubert Wolf "Präsenz und Präzedenz. Der kaiserliche Wahlkommissar und die Entwicklung von Verfahren und Zeremoniell bei den frühneuzeitlichen Bischofswahlen" (183-200) geht es um Entscheidungsfindungsprozesse im kirchlichen Raum. Das Problem stellt hierbei das Verhältnis von Domkapitel und Kaiser dar. Der Autor zeigt, wie beide Seiten versuchten, ein Verfahren zu etablieren, das es vor allem beiden Seiten gestattete, auch wenn sie ihre Interessen nicht durchsetzen konnten, ihr Gesicht zu wahren. Eine besondere Rolle spielte dabei der kaiserliche Wahlkommissar. Akte, wie die Information des Wahlkommissars über den Wahlausgang vor derjenigen von Klerus und Volk, das "Compliment" des Gewählten oder die Gratulation durch den Wahlkommissar betonten die Bedeutung des Kaisers auch und gerade dort, wo er mit seinen Interessen nicht zum Zuge kam.
Der letzte Beitrag des Bandes stammt von Klaus Unterberg "Kanonisch und frei. Das Verfahren der frühneuzeitlichen Abtwahl als Spiegel konkurrierender Wertesysteme" (200-218). Unterberg zeigt, wie sich in der Wahl drei ganz unterschiedliche "Beziehungsgeflechte" überschnitten, die nicht immer unproblematisch miteinander zu vereinbaren waren. Neben Machtverhältnissen zwischen Abt, Konvent und weltlichen Gewalten, traten die kanonistische Ekklesiologie, die Einfluss auf das Wahlverfahren hatte, und schließlich die Demutsideale, die aus den "Grunddokumenten" des Ordens folgten.
Der Sammelband ist mit der sich wohltuend von anderen Tagungsbänden abhebenden Konzentration der einzelnen Beiträge auf die gemeinsame Fragestellung und seiner gleichzeitigen inhaltlichen Breite, die es gestattet, sowohl immer wiederkehrende, mit Wahlen verbundene Probleme wie die Bedeutung von Zeit im Verfahren, wie die Ausdifferenzierung von einzelnen Phasen mit unterschiedlichen Beteiligten und Funktionen oder wie auch den Umgang mit dem Wahlverlierer als auch die Varianz von Lösungen zu betrachten, ein willkommener Beitrag zur Erforschung vormoderner Wahlverfahren.
Jan Timmer