Justin E.A. Kroesen / Victor M. Schmidt (eds.): The Altar and its Environment 1150-1400 (= Studies in the Visual Cultures of the Middle Ages; Vol. 4), Turnhout: Brepols 2009, V + 314 S., ISBN 978-2-503-53044-4, EUR 95,00
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Die Beiträge dieses Sammelbandes resultieren aus einem Symposium, das sich 2006 an der Universität Groningen am Beispiel früh- und hochmittelalterlicher Altarausstattung der Relation von Liturgie und bildender Kunst, von Ästhetik und Funktion widmete. Allerdings stößt der Versuch, dieser Wechselwirkung nachzugehen, auf das Problem, dass die mittelalterlichen Quellen eigenartig wenig dazu hergeben - am ehesten noch tun dies die Libri ordinarii (die Louis van Tongeren für das niederländische Geltungsgebiet diskutiert). Warum dies so ist, kann auch der vorliegende Band nicht beantworten. Dafür wartet er aber mit anderweitig wichtigen Ergebnissen auf. Die vierzehn Beiträge rekapitulieren maßgebliche Recherchen, die nicht selten von den im Buch zu Worte kommenden Autoren initiiert wurden. Dass das Spektrum der untersuchten Kunstregionen weiter gefasst ist als im Gros der bisherigen Literatur, gehört ebenso zu den Vorzügen des Sammelbands wie die Tatsache, dass er sich auf das 13. und 14. Jahrhundert konzentriert, also auf eine Zeit, die hinsichtlich der hier zur Debatte stehenden Fragen relativ vernachlässigt worden ist - die Forschung zur Situation in Italien einmal ausgenommen.
Aus gesamteuropäischem Blickwinkel erweist sich Skandinavien aufgrund günstiger Erhaltungsumstände mittelalterlicher Kunst als ein Eldorado der Komparatistik, wie der Sammelband wieder einmal verdeutlicht. Dass neben Island, Schweden, Dänemark und neben Deutschland, England, Nord- und Mittelitalien, neben den Niederlanden, Zentralfrankreich und Katalonien auch Mallorca, Zypern und (in einem Exkurs des Artikels von Justin Kroesen über Seitenaltäre im Bedeutungshaushalt mittelalterlicher Kircheninterieurs) die Slowakei in das Untersuchungsfeld einbezogen werden, führte zu bemerkenswerten Resultaten. So konnte Michele Bacci in seinem Beitrag zu Seitenaltären mittelalterlicher zypriotischer Kirchen die Beziehung zwischen Nebenaltären und den davor platzierten Grablegen um neues Material bereichern, das zudem wichtige Konsequenzen hinsichtlich der engen Kooperation von offizieller Liturgie und "Privatfrömmigkeit" zeitigt. Einen spannenden Ideentransfer deckt Francesca Español in ihrer Untersuchung von Tabernakel-Retabeln im Königreich Aragón auf. Sie weist nach, dass der dem Retabelcorpus integrierte Eucharistietabernakel Ähnlichkeit besitzt mit den zentralen, von Türmen überhöhten Reliquienkompartimenten in deutschen Schnitzretabeln, etwa des Hochaltarretabels der Zisterzienserklosterkirche Doberan aus dem frühen 14. Jahrhundert: Besonders deutlich wird diese Verwandtschaft angesichts des ehemals für die Kathedrale in Barcelona bestimmten Retabels, das sich jetzt in der dortigen Kirche Sant Jaume befindet. Die Entwicklung steinerner Retabel im Katalonien des 14. Jahrhunderts untersucht Rosa Terés i Tomás im wiederum breit gefächerten internationalen Zusammenhang. Hervorheben möchte ich ferner den Artikel von Stephan Kemperdick über bemalte Retabel im nördlichen Deutschland, 1180-1350, der nicht nur neues Licht auf die bekannten Stücke in und aus Soest wirft, sondern für das heute in der Berliner Gemäldegalerie aufbewahrte Kreuzigungsretabel aus der Soester Wiesenkirche (um 1240) einen die Tafel überfangenden plastischen Bogen rekonstruieren kann, der analog auch bei den sogenannten Goldaltären Dänemarks begegnet: Überzeugend erschließt Kemperdick deshalb einen Retabeltypus, der einst enorm weit verbreitet gewesen sein muss.
Einem eigenen Retabeltypus geht auch Ebbe Nyborg anhand erhaltener und rekonstruierbarer Stücke vor allem der skandinavischen Kunstlandschaft nach: Dabei trägt ein zwischen zwei hohe Pfosten "eingespanntes" niedriges Brett ein Kruzifix. Die jeweiligen, nur geringfügig variierten Konfigurationen sollten vermutlich den biblischen Altar im Salomonischen Tempel assoziieren.
Paul Binski fokussiert sich in England auf Statuen im Kontext des Altars, auf Retabel und Ziborien vor 1350. Da auf der Insel die mittelalterlichen Altarensembles fast alle zugrunde gegangen sind, ist es umso willkommener, dass der Autor quellenkundlich die Existenz von Altaraufsätzen schon seit etwa 1000 und vermehrt dann seit der Romanik verifizieren kann. Ausführlich geht Binski auf das berühmte Westminster-Retabel aus den Jahren um 1260 ein. Er stellt dessen (gemalte) Architekturdetails in ein komplexes Beziehungsgeflecht, vergleicht sie etwa überzeugend mit Vorbildern aus der französischen Buchmalerei und mit dem Reliquienziborium in der Pariser Sainte-Chapelle sowie mit Mosaikarbeiten der römischen Cosmaten, die damals in Westminster tätig waren; letztere könnten ihre Auslandserfahrungen nach Italien zurückgebracht und dort Arnolfo di Cambio inspiriert haben. Ergänzend erinnere ich an die von Marco Ciatti im Florentiner Ausstellungskatalog "Giotto. The Cruzifix in Santa Maria Novella" von 2001 auf Seite 53f. vertretene These, der zufolge die kostbare Erscheinung des Westminster-Retabels, vermittelt eventuell über Glaskünstler in Assisi, um 1300 zu Giotto vorgedrungen sein könnte.
Der erwähnte Aufsatz von Kroesen rückt - im Rückgriff auf die nur sporadisch vorhandene einschlägige Literatur - ins Bewußtsein, dass die hohe Verlustrate früh- und hochmittelalterlicher Altarausstattungen nur selten protestantischem Bildersturm geschuldet ist, dass im Gegenteil speziell die lutheranische Kirche die Weiternutzung alter Bestände oft gefördert und damit zu ihrer Erhaltung beigetragen hat. Größere Zerstörungswellen als die reformatorischen Ikonoklasmen brachten vielmehr Gegenreformation und Aufklärung mit sich, die mit missverständlichen und angeblich abergläubischen Instrumentarien aufräumen wollten.
Der mir zur Verfügung stehende Platz ist zu knapp, um allen Beiträgen in gebührendem Maße gerecht zu werden: Sible de Blaauws Erörterungen zur Monumentalisierung des Altars in Italien, Andrea de Marchis Diskussion venezianischer Retabel, Favienne Jouberts Darstellung der bemerkenswerten Steinretabel in der Abteikirche von Saint-Denis, Pierre-Yves Le Pogams Diskurs zum frühen Steinretabel in Carrières, Victor M. Schmidts Ausführungen zu frühen bemalten Retabeln und Antependien (deren Vorkommen anders, als oft behauptet, nichts über die Stellung des Liturgen vor oder hinter dem Altar besagt). Peter Tångeberg, um wenigstens noch diesen Hinweis zu geben, resümiert und erweitert seine früheren Forschungen über schwedische Retabel des 14. Jahrhunderts und kommt unter anderem zu dem bemerkenswerten Ergebnis, dass Westfalen seinerzeit als Exporteur von Altaraufsätzen für Skandinavien wichtiger war als das in dieser Hinsicht in der Literatur geradezu topisch aufgeführte Lübeck.
Die Institution Kirche hat heutzutage bekanntlich ihre Probleme damit, moderne Kunst und Liturgie in eine überzeugende Einheit zu bringen. Der Blick zurück ins verblüffend experimentierfreudige 13. und 14. Jahrhundert, wie ihn der vorliegende Sammelband eröffnet, zeigt, dass im angeblich so finsteren Mittelalter keine Berührungsängste zwischen Liturgie und ästhetischen Innovationen existierten und dass keiner der beiden Bereiche darunter Schaden litt - ganz im Gegenteil!
Norbert Wolf