Rezension über:

Gerben Bakker: Entertainment Industrialised. The Emergence of the International Film Industry, 1890-1940 (= Cambridge Studies in Economic History), Cambridge: Cambridge University Press 2008, XXI + 449 S., ISBN 978-0-521-89854-6, GBP 55,00
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Rezension von:
Berti Kolbow
Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Georg-August Universität, Göttingen
Redaktionelle Betreuung:
Michael C. Schneider
Empfohlene Zitierweise:
Berti Kolbow: Rezension von: Gerben Bakker: Entertainment Industrialised. The Emergence of the International Film Industry, 1890-1940, Cambridge: Cambridge University Press 2008, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 6 [15.06.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/06/16342.html


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Gerben Bakker: Entertainment Industrialised

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Warum geht das Massenpublikum ins Kino statt etwa ins Theater und warum kommen die meisten kommerziellen Kinofilme aus Hollywood statt aus beispielsweise London oder Paris? Dem Aufstieg der Kinowirtschaft als internationale Unterhaltungsindustrie und der dauerhaften Dominanz Hollywoods hat sich der an der London School of Economics lehrende Autor rund ein Jahrzehnt an Forschung gewidmet und mit diesem Werk eine Zusammenfassung vorgelegt. Auch wenn einzelne Aspekte bereits als Aufsatzpublikation erschienen sind, muss Bakkers auf seiner Dissertation im Jahre 2001 ruhende Studie in dieser erweiterten Form als wegweisend betrachtet werden. Er verkleinert damit Lücken in gleich zwei Forschungszweigen. Zum einen schwimmt er mit der Untersuchung einer Dienstleistungsindustrie gegen den Strom der Wirtschaftsgeschichte, deren Hauptaugenmerk nach wie vor auf verarbeitenden Industrien ruht. Zum anderen ergänzt er die bislang kleine Anzahl an Publikationen, die auf die Entwicklung der Kinowirtschaft selbst fokussieren und nicht auf kulturwissenschaftliche Aspekte wie Ästhetik, Inhalt und Rezeption von Filmproduktionen.

Mittels eines industrieökonomischen Ansatzes analysiert Bakker die Kinoindustrie als Ganzes, zeichnet zudem ihre historische Entstehung nach und beschreibt ihren Einfluss auf andere volkswirtschaftliche Bereiche. Getreu dem Schumpeter'schen Konzept der "schöpferischen Zerstörung" interessiert er sich vor allem für langfristige Veränderungen in der Branchenstruktur. Anhand von Kriterien wie Nachfrageveränderungen, Anbieterkonzentration, Produktivitätszuwächsen und Produktgestaltung vergleicht er, wie sich das Kino in den USA, England und Frankreich als erste große Welle der industrialisierten Massenunterhaltung herausbildete. Punktuell wird dies um Erkenntnisse zu anderen historisch wichtigen Kinoindustrien wie Italien, Dänemark und Deutschland ergänzt.

Bakkers erster zentraler These zufolge war der Schlüssel zum Aufstieg der Kinoindustrie die - im Industrialisierungsprozess archetypische - Ausnutzung von Skaleneffekten durch die Standardisierung des Mediums Film seit den 1890er Jahren, die ihr deutlich höhere Produktivitätszuwächse erlaubte als traditionelle Zuschauerunterhaltungsformen zuvor. Visuelle Unterhaltung wurde zu einem ubiquitären, qualitativ und technisch verlässlichen, über große geographische Distanzen hinweg handelbaren Gut. "Motion pictures industrialised spectator entertainment by automating it, standardising its quality and transforming it into a tradeable product." (2) Laut Bakkers zweiter Kernthese spielten die "versunkenen Kosten", also die hohen Investitionen in Filmproduktionen, eine wesentliche Rolle für die Branchenentwicklung. Der Trend zu aufwendigen Spielfilmen seit den 1910er habe hohe Anforderungen an Kapitalintensität und Marktzugang gestellt und die industrielle und geographische Konzentration der Branche gefördert.

Der erste von drei Teilen des Buches beschreibt als Hinführung zum Kernthema die Entstehung von nationalen Märkten für Zuschauerunterhaltung im 19. Jahrhundert. Darin erläutert Bakker, wie staatliche Deregulierung von öffentlichen Unterhaltungsveranstaltungen, die Transport- und Kommunikationsrevolutionen sowie die Anerkennung von Urheberrechten mit Zuwächsen an disponiblen Einkommen und Freizeit sowie Verstädterung und Bevölkerungswachstum einhergingen und Amüsierstätten wie Theater, Varieté und Vaudeville Wachstumsschübe bescherten. Trotz des Ausbaus von Zuschauerkapazitäten und effizienten Buchungssystemen für reisende Künstler konnte die Produktivität um die Wende zum 20. Jahrhundert jedoch nicht unendlich gesteigert werden.

In dieser Phase, damit beginnt der zweite Teil des Buches, nutzten innovative Unternehmer technologische Fortschritte der zweiten Industriellen Revolution und führten praktisch gleichzeitig in den USA und Europa Kinoautomaten und Wanderkinos ein. Sie schöpften den Nachfrageüberhang bei Geringverdienern ab, konkurrierten aber übergangsweise mit anderen günstigen Moden der Unterhaltung, zumal die Infrastruktur der Theaterbranche mitgenutzt wurde. Mit dem Aufkommen von stationären Kinos ab etwa 1905 und der zunehmenden Integration von Produktion, Vertrieb und Kinobetrieb vor den Weltkriegsjahren habe eine weitere Wachstumsphase eingesetzt, in der sich das Geschäft zu einem eigenständigen Industriezweig entwickelte und andere Formen der Liveunterhaltung in ihrer Bedeutung verdrängte.

Die meisten Filme kamen zu dieser Zeit aus Europa, die USA gehörten zu den wichtigsten Importeuren. In den weiteren Kapiteln dieses Teils beschreibt Bakker wie sich dieses Verhältnis in nur kurzer Zeit bis Mitte der 1920er Jahre umkehrte. Basierend auf John Suttons Theorie, die einen Zusammenhang zwischen versunkenen Kosten - hier den unwideruflich getätigten Investitionen in Filmprojekte - und Marktgröße herstellt, misst Bakker dem Durchbruch des Langspielfilms in den 1910er Jahren eine Schlüsselrolle bei. US-Filmproduktionen wurden immer aufwendiger, weil sich Studiobetreiber davon höhere Profitchancen versprachen als durch die bis dato üblichen Kurzfilme. Den daraufhin eskalierenden Wettlauf überlebten aber nur die späteren "major companies" in Südkalifornien - zu Lasten der Filmstandorte in Florida, New York und Europa. Die transatlantische Konkurrenz sei vor dem Ersten Weltkrieg dieser Strategie mehrheitlich nicht gefolgt und habe damit auf das falsche Pferd gesetzt. Versuche, in der Zwischenkriegszeit aufzuholen, scheiterten an protektionistischen Hürden. Handelsbarrieren und Ressentiments gegen ausländische Filme versperrten die Märkte innerhalb Europas, Marktabsprachen der US-Konkurrenz den Zugang zum amerikanischen Vertriebsnetz. In den relativ kleinen europäischen Heimatmärkten waren Großproduktionen aber schwer zu amortisieren. Ein weiteres Kapitel widmet Bakker der Einführung des "Star System" Hollywoods und führt aus, inwiefern Gagen für berühmte Schauspieler nicht nur die Produktionskosten in riskante Höhen schraubten, sondern als "Branding"-Strategie auch gerade dazu beitrugen, dass sich diese versunkenen Kosten rentierten.

Der letzte Teil geht darauf ein, inwiefern die Entwicklung der Kinowirtschaft Erklärungskraft für die Industrialisierung anderer Unterhaltungsbranchen, etwa der Musik- und Fernsehindustrie bieten könne. Unter anderem hebt Bakker die Bedeutung von vertikal integrierten Multinationals mit eigenen Auslandsvertriebsnetzen hervor. Deren Organisationsform habe sichergestellt, dass Inhalte auch außerhalb des Heimatmarktes genügend "screentime" erhalten, worauf selbst US-Studios trotz des großen Stammmarktes angewiesen seien. Mit der frühen Verwendung wissenschaftsgestützter Marktforschungsmethoden in den 1930er Jahren hätten Filmstudios ferner den Weg für die moderne Zuschaueranalyse bereitet. Abschließend entwickelt der Autor ein Untersuchungsschema von Produktivitätszuwächsen vergleichbarer Unterhaltungsindustrien mit hohen "versunkenen Kosten", ehe er mit einem schlaglichtartigen Epilog über die Rückwirkungen des Fernsehens auf die Kinowirtschaft endet.

Gerben Bakker bietet somit deutlich mehr als eine Branchenstudie, die so detailreich ausfällt, dass sich ein Eingehen auf inhaltliche Einzelheiten verbietet. Es besteht wenig Anlass zur Kritik. Dass der Autor seit Jahren in dem Thema zuhause ist, kommt zwar der überzeugenden Argumentation seiner beiden Kernthesen und dem nachvollziehbaren Aufbau zugute. Jedoch ist die Detailfülle mitunter derart erschlagend, dass eine rigidere Kürzung wünschenswert gewesen wäre. Andererseits verzichtet der Autor mit Verweis auf frühere Veröffentlichungen auf die Erläuterung der erhobenen Daten in Grafiken und Tabellen und geizt auch mit Erläuterungen zur Methodik und zu verwendeten Forschungsmaterialien. Dies und der hohe wirtschaftswissenschaftliche Anspruch machen die Lektüre trotz gelegentlicher essayistischer Auflockerung zu einer überwiegend trockenen und voraussetzungsreichen Angelegenheit, die an der Kinowirtschaft interessierte Forscherinnen und Forscher anderer Disziplinen den Zugang erschweren dürfte. Das ist schade, denn Bakker leistet mit seiner Industrialisierungsgeschichte dreier der historisch bedeutendsten nationalen Filmindustrien einen bemerkenswerten Beitrag zum Verständnis dieser Branche, an dem thematisch einschlägige Arbeiten auf lange Sicht nicht vorbeikommen werden.

Berti Kolbow