Robin A. Butlin: Geographies of Empire. European Empires and Colonies c.1880-1960, Cambridge: Cambridge University Press 2009, XVII + 673 S., ISBN 978-0-521-74055-5, GBP 29,99
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Mit seiner Studie Geographies of Empire. European Empires and Colonies c. 1880 - 1960 legt Robin A. Butlin, emeritierter Professor für Geographie an der Universität von Leeds und Autor zahlreicher einschlägiger Arbeiten zur historischen Geographie, ein überzeugendes Plädoyer für eine interdisziplinär orientierte Kolonialismus- und Imperialismusforschung vor.
Geographiehistorische Fragestellungen haben in der Kolonialismus- und Imperialismusforschung eine lange Tradition. Insofern ist Butlins methodischer Ansatz nicht Schule bildend. Wohlwissend formuliert er einen solchen Anspruch auch nicht, was den Wert seiner Untersuchung für Fachwissenschaftler und Studierende, die sich ein neues Themenfeld erschließen, keineswegs schmälert. Es ist im Gegenteil das Verdienst von Butlin, der in seinem flüssig geschriebenen und gut lesbaren Überblickswerk die Erträge seiner langjährigen Forschung in einem weiten Panorama entfaltet, dass er die Historische Geographie stärker ins Bewusstsein bringt.
Historische Geographie, eine Raumwissenschaft, welche die Analyse der Mensch-Umwelt-Beziehung d. h. die Analyse von Akteuren und Prozessen der Raumgestaltung in der Geschichte zum Gegenstand hat, bildetet die methodische Matrix in Butlins Imperialismusforschung. Das Zentrum-Peripherie-Modell zugrunde legend untersucht Butlin in seiner kenntnisreichen Studie die Ursachen, Motive und Methoden moderner europäischer Kolonialherrschaft sowie die komplexen Entwicklungslinien und die bis in die Gegenwart hinein spürbaren Auswirkungen des europäischen Imperialismus für Mensch, Gesellschaft und Umwelt in den ehemaligen Kolonien in vergleichender Perspektive von ihren Anfängen bis in die Zeit der Dekolonisation. Herrschaftspraxis und indigener Widerstand werden in diesem Zusammenhang in Bezug zueinander gesetzt. Sein interdisziplinärer Zugang zum Thema berücksichtigt Paradigma und Methoden der kulturwissenschaftlich geprägten Postkolonialismusforschung sowie der Geschlechter- und Sozialgeschichte in Erkenntnis fördernder Weise.
Allerdings beschränkt sich Butlin auf die Auswertung vorwiegend englischsprachiger Literatur. Daher fließen Diskurse zum Beispiel der deutschen oder italienischen Kolonialismus- und Imperialismusforschung kaum oder gar nicht in seine Untersuchung ein. Sein Erkenntnisinteresse gilt im Besonderen der Historischen Geographie des Britischen Empire. Die Darstellung der übrigen europäischen Imperien bzw. Kolonialreiche rückt dagegen in den Hintergrund. Es wird dem Quellenproblem geschuldet sein, dass die Perspektive der von kolonialer Herrschaft Unterworfenen in der Studie Butlins, anders als man es sich gewünscht hätte, keine Berücksichtigung findet.
Am Beginn seiner umfangreichen Studie erörtert Butlin sein methodisches Vorgehen und führt in die für seine Fragestellung relevante Theoriediskussion zu den Begriffen der Geographie, des Imperialismus und des Kolonialismus ein. Besondere Beachtung finden bei ihm die geographischen Erklärungsmodelle des Kolonialismus von R. C. Harris (10 f.), D. W: Meining (12 f.) und J. M. Blaut (15 f.) sowie die imperialismustheoretischen Überlegungen von J. Hobson, Lenin, R. Robinson und J. Gallagher (21 ff.). Im zweiten Kapitel gibt Butlin einen allgemeinen Überblick zur Geschichte der europäischen Imperialismen (46 ff.). Butlin skizziert die Politik der Großmächte und die Entwicklung der Kolonialreiche und beschreibt ausführlich die geographische Ausdehnung und die geoökologischen Bedingungen in den Kolonien.
Im dritten Kapitel widmet sich Butlin der Bevölkerungsentwicklung in den Kolonien i. e. der Bevölkerungspolitik der Kolonialmächte sowie den Ursachen und Formen vom Migrationsbewegungen im Zusammenhang mit Kolonialismus und Imperialismus. Ein Hauptaugenmerk bildet hierbei die Darstellung von Hungersnöten sowie die Problematisierung der gesundheitlichen und hygienischen Situation in den Kolonien am Beispiel verschiedener Tropenkrankheiten.
Butlin konstatiert gemeinsame politische, wirtschaftliche und strategische Motive der Großmächte (183 ff.). Auf dieser Grundlage beschreibt er, den prozessualen Charakter betonend, die Entwicklung der Kolonialreiche Englands, Frankreichs, Deutschlands, Belgien, Italiens, Portugal und Spaniens in Einzelfallstudien (199 ff.). In weiteren Kapiteln widmet sich Butlin der Entstehung geographischen Wissens im 18. und 19. Jahrhundert als Ergebnis von Forschungs- und Entdeckungsreisen. In diesem Kontext problematisiert er die Rolle und Funktion der geographischen Gesellschaften und kolonialpolitischer Interessengruppen (Kolonialvereine) als Protagonisten imperialistischer Politik. Ohne Unterstützung der Geographie wäre eine koloniale Landnahme in vielen Fällen kaum oder nur unter erschwerten Bedingungen möglich gewesen. Mit ihren kartographischen Arbeiten leisteten die Geographen Grundlagenarbeit für eine umfassende wirtschaftliche, soziale sowie siedlungs- und städtebauliche "Erschließung" der Kolonien auf verschiedenen Ebenen. Butlin konstatiert die Bedeutung der Kartographie als Herrschaftstechnik und illustriert seine These am Beispiel der Verkartung Afrikas und Indiens vor dem Hintergrund widerstreitender geopolitischer Interessen der Großmächte.
Im Verlauf seiner Untersuchung widmet sich Butlin kulturimperialistischen Aspekten der Kolonialpolitik. Die Zurückdrängung und Zerstörung indigener Gesellschaftsstrukturen im Rahmen der "Zivilisierungsmissionen" der europäischen Kolonialpolitiken und die Reaktion der indigenen Bevölkerung wird nicht zuletzt auch vor einem geschlechtergeschichtlichen Hintergrund thematisiert. Wie Butlin überzeugend ausführt, bedrohte nicht nur die Zerstörung politischer Systeme und traditioneller Gesellschaftsstrukturen die Menschen in ihrer Existenz. Die Unterwerfung der Umwelt durch den Menschen gemäß kolonialgesellschaftlicher und wirtschaftlicher Interessen der Großmächte verstärkte dieses Bedrohungsgefühl durch die Vernichtung wirtschaftlicher Existenzgrundlagen und natürlicher Lebensräume (396 ff.).
Weitere Schwerpunkte der Studie bilden die Entwicklung des Transport- und Kommunikationswesens zwischen Kolonialmacht und Kolonie und dessen Bedeutung für die Absicherung und den Ausbau imperialer Herrschaft (452 ff.) sowie die (Geographie-und Sozial-)Geschichte der kolonialen Urbanisierung (499 ff.).
Die Bedeutung der Wirtschaftsgeographie hinsichtlich der ökonomischen Ausbeutung der Kolonien betont Butlin im zwölften Kapitel seiner Darstellung. Butlins Interesse gilt besonders der von oben durchgesetzten agrarischen Revolution in den Kolonien, der Einführung der Plantagenwirtschaft und der Zerstörung indigener landwirtschaftlicher Systeme (540 ff.) und den hieraus resultierenden Folgen für Mensch, Gesellschaft und Umwelt. Ferner lenkt Butlin die Aufmerksamkeit auf das Minenwesen und die Ausbeutung spezifischer Rohstoffe (Edelmetalle, Diamanten, etc.).
Ansätze der Postkolonialismusforschung aufgreifend, befasst sich Butlin anhand der Beispiele Indiens, Pakistans und verschiedener afrikanischer Kolonien abschließend mit dem facettenreichen Prozess der Dekolonisation der europäischen Kolonialreiche und den bis heute nachwirkenden Folgen des Kolonialismus in den ehemaligen Kolonien und den Kolonialmächten.
Fazit: Butlin hat mit seiner anregenden Studie ein Standardwerk zum Thema vorgelegt, dass weiteren vertiefenden Forschungsvorhaben als Grundlage dienen kann.
Salvador Oberhaus