Christian Kuhn: Generation als Grundbegriff einer historischen Geschichtskultur. Die Nürnberger Tucher im langen 16. Jahrhundert (= Formen der Erinnerung; Bd. 45), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010, 553 S., ISBN 978-3-89971-588-0, EUR 67,90
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Mark Häberlein / Christian Kuhn / Lina Hörl (Hgg.): Generationen in spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Städten (ca. 1250-1750), Konstanz: UVK 2011
Luxuriöse Kleidung, prachtvolle Feste und großzügige Stiftungen gehörten zu den repräsentativen Instrumenten, derer sich das Patriziat im 16. Jahrhundert bediente, um seine Position im sozialen Konkurrenzkampf zwischen aufstrebenden Kaufmannsfamilien einerseits und alteingesessenem Adel andererseits zu sichern. Mit seiner in Bamberg bei Mark Häberlein entstandenen Dissertation weist Christian Kuhn überzeugend nach, dass auch aufwändig gestaltete Familienbücher und selbst die auf den ersten Blick eher unscheinbare innerfamiliäre Korrespondenz zwischen Vätern und Söhnen als bewusst eingesetzte Werkzeuge der Identitätsstiftung und Selbstbehauptung in einem sich wandelnden sozialen Umfeld fungierten.
Zentrale Bedeutung erlangte dabei - zumindest im gewählten Beispiel der Familie Tucher - das Konstrukt "Generation". Im Gegensatz zur heutigen Bedeutung stand der Begriff "Generation" im 16. Jahrhundert der lateinischen Wurzel "generare" noch sehr viel näher und schloss damit eine Vielfalt semantischer Dimensionen des Hervorbringens, Ernährens und Weitergebens mit ein, so dass nur im konkreten Quellenkontext näher bestimmt werden kann, welcher Bedeutungsgehalt jeweils zugrunde liegt.
Kuhn nähert sich diesem Phänomen auf zwei Wegen. Der erste führt über die Auswertung des Tucher'schen Briefarchivs. Aus dem 1755 Dokumente umfassenden Briefarchiv greift der Verfasser die Korrespondenz zwischen den in Nürnberg verbliebenen Vätern, zum Beispiel Anton oder Leonhard Tucher, und den zur Ausbildung in andere europäische Metropolen wie nach Lyon oder Mailand entsandten Söhnen, etwa Herdegen oder Daniel Tucher, heraus. Die sorgsam archivierten und zur wiederholten Lektüre aufbewahrten Briefe behandelten kaufmännische Fragen eher am Rande. Im Kern, so das stringent herausgearbeitete Resultat einer genauen philologischen Analyse, diente die stark mit pädagogischen Topoi durchsetze, formelhafte Korrespondenz der Weitergabe grundlegender Haltungen vom Vater an den Sohn. Durch die Wiederholung der Ermahnung einerseits und die Beteuerung ihr Folge zu leisten andererseits schuf diese hierarchisch vom Vater dominierte Kommunikation zwischen den Generationen außerdem die Grundlage für die Identifikation mit den in der Familie hoch gehaltenen und von Generation zu Generation weitergegebenen Werten.
Der zweite Zugang führt über die minutiöse formale, kompositorische, ikonographische und sprachliche Untersuchung des so genannten "Großen Tucherbuchs". Nach der ersten bis 1542 von Christoph Scheurl als Familienchronik verfassten Variante erlebte dieses Repräsentationswerk im Laufe des 16. Jahrhunderts mehrere Neufassungen, die jeweils ein neues Geschichtsbild erkennen lassen. In der ursprünglichen Version stand die Verortung der Familie im Kreis der städtischen Eliten durch die Darstellung ihrer illustren Familiengeschichte und der Leistungen der vorangegangenen Generationen im Vordergrund. Die späteren Neufassungen versuchten zum einen durch eine immer prachtvollere und kostspieligere Gestaltung des Buches der Familie im Überbietungswettbewerb des Nürnberger Patriziats Vorteile zu verschaffen. Gleichzeitig wurden insbesondere durch den Leser lenkende Vorreden neue Geschichtsbilder konstruiert. Besonders aufschlusseich ist dabei die "'Einverleibung' der Reformation in die Geschichtsschreibung der offenbar als ein 'Leib', organische Einheit und Zeitkörper interpretierten Familie" (425). Durch die Darstellung der schrittweisen Erkenntnis der wahren, ursprünglichen Religion als innerfamiliärer Lernprozess konnte trotz der konfessionellen Zäsur dem offenbar nach wie vor starken Bedürfnis nach einer die Generationen übergreifenden Memoria Rechnung getragen werden. Die Gestaltung und Pflege einer eigenen Geschichtskultur im Prachtkodex des Tucherbuchs wirkte identitätsstiftend und bot eine Alt und Jung verbindende Selbstvergewisserung in einer Zeit des sozialen, ökonomischen und konfessionellen Wandels.
Der generationengeschichtliche Forschungsansatz, dem diese Dissertation konzeptionell verpflichtet ist, erweist sich hier als zielführendes heuristisches Instrumentarium und gleichzeitig als ein neue Perspektiven eröffnendes Interpretationsmodell. Dies gelingt Christian Kuhn auch deshalb, weil er die klassische Generationensoziologie Karl Mannheims [1] weiterentwickelt und auf die Analyse der historischen Konstruktion diachroner familiärer Generationenfolgen im 16. Jahrhundert anwendet. [2]
Die beiden gewählten Zugänge ergänzen sich dabei sehr gut, sind allerdings argumentativ kaum aufeinander angewiesen. Die beiden Quellenbestände hätten durchaus zwei unabhängige Dissertationen zugelassen. So ist ein voluminöses Werk entstanden, das den Leser die Mühen der Entstehung weniger durch den Umfang als vielmehr durch einen relativ elaborierten Sprachstil nachempfinden lässt. Ob wirklich alle metasprachlichen Umschreibungen notwendig sind, ob man wirklich von "diskursgeprägten Kommunikationszeugnissen" (78) sprechen muss, wenn man einfach nur Briefe meint, sei dahingestellt. Hilfreich für den mit der Geschichte des Nürnberger Patriziats weniger vertrauten Leser wäre tatsächlich eine Genealogie oder ein Stammbaum, der die zahlreich auftauchenden Tucher zuordenbar macht. Doch das sind vergleichsweise Petitessen angesichts einer beeindruckenden wissenschaftlichen Leistung, die unser Bild des frühneuzeitlichen Patriziats in Süddeutschland um eine wesentliche Facette bereichert.
Anmerkungen:
[1] Karl Mannheim: Das Problem der Generation, in: Kölner Vierteljahreshefte für Soziologie 7 (1928), 157-185 und 309-330.
[2] Mark Häberlein / Christian Kuhn: Einleitung, in: Dies. / Lina Hörl (Hgg.): Generationen in spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Städten (ca. 1250-1750), Konstanz 2011, 9-24.
Peer Frieß