Michael Heinz: Von Mähdreschern und Musterdörfern. Industrialisierung der DDR-Landwirtschaft und die Wandlung des ländlichen Lebens am Beispiel der Nordbezirke, Berlin: Metropol 2011, 558 S., ISBN 978-3-940938-90-9, EUR 29,90
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Eine unübersehbare Diskrepanz zeichnet die historische Forschung zur DDR, dem selbst ernannten "Arbeiter- und Bauernstaat", aus. Während der Arbeiterklasse stets zentrale Bedeutung beigemessen und daher Aufmerksamkeit zuteil wurde, gilt das für die Bauern nicht. Dieser Umstand führte und führt zu weitreichenden Fehlinterpretationen, sei es bezüglich des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953, bezüglich des Mauerbaus von 1961 oder bezüglich der vermeintlichen Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik. Dass die Landwirtschaft und der ländliche Raum auf dem Weg zur Industriegesellschaft beständig an Bedeutung verloren, ist ohne jeden Zweifel richtig, doch ihre Relevanz für die DDR und ihre Geschichte wird bis heute sträflich unterschätzt.
Die vorliegende Publikation ist durchaus geeignet, hier einiges zur Klärung offener Fragen beizutragen. Denn sie widmet sich einem Zeitabschnitt, der selbst in der überschaubaren Forschung zur DDR-Agrargeschichte unterrepräsentiert ist: den 1960er und 1970er Jahren. In dieser Zeit, nach dem Abschluss der erzwungenen Kollektivierung, trachtete die SED-Führung vor allem danach, auch in der Landwirtschaft "industriemäßige Produktionsmethoden" durchzusetzen, die agrarische Produktion so weit wie möglich von der Natur zu lösen und ihre umfassende Plan- und Regelbarkeit sicherzustellen. Damit entsprach die Parteispitze den theoretischen Vorgaben des Marxismus-Leninismus, ging dabei zum Teil aber eigene Wege, wie etwa mit der radikalen Trennung von Tier- und Pflanzenproduktion - eine folgenreiche Fehlentscheidung, die so in keinem anderen sozialistischen Land vollzogen wurde.
Nach einer knappen Einführung in die DDR-Agrargeschichte und einer ausführlichen Darstellung der Forschungslage folgen drei Hauptkapitel. Zunächst stellt der Autor überzeugend die agrarstrukturelle Entwicklung dar. Zeitlicher Ausgangspunkt ist dabei der VI. SED-Parteitag vom Januar 1963, der die industriemäßige Umgestaltung der Landwirtschaft auf die politische Agenda setzte. Den Schlusspunkt bilden die späten 1970er Jahre, in denen überdeutlich wurde, dass diese Umgestaltung immer schwerer zu beherrschende Negativfolgen zeitigte. In chronologischer Abfolge kommen hierbei u. a. der administrativ forcierte Fusionsprozess von Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG), die vielfältigen Kooperationsbeziehungen zwischen einzelnen Betrieben, der Aufbau einer Massentierhaltung und die Verschränkung von landwirtschaftlicher und industrieller Produktion in Agrar-Industrie-Vereinigungen zur Sprache. Im zweiten Hauptkapitel werden detailliert die Auswirkungen der "Industrialisierungsphase" geschildert, so etwa die Verteilungskämpfe um die stets knappen Ressourcen, die zunehmende Technisierung und Chemisierung der Produktion und die daraus folgenden Umweltprobleme, die immer bedrohlichere Ausmaße annahmen. Abschließend analysiert der Autor im dritten Kapitel das Leben und Arbeiten in den Dörfern, hierbei u. a. die hegemoniale Stellung der LPG, die sich verändernde Siedlungsstruktur und das Freizeitverhalten der Bevölkerung. Besondere Aufmerksamkeit widmet er dabei völlig zu Recht der Frage, inwiefern es der SED gelang, ihren Anspruch zu realisieren, eine Klasse von Genossenschaftsbauern zu schaffen und diese in zunehmendem Maße an die Arbeiterklasse anzugleichen. Die übergreifenden Fragestellungen, die sich auf alle Kapitel gleichsam beziehen, lauten: Handelte es sich bei den Transformationsprozessen um eine Agrarmodernisierung und inwieweit gelang sie? Wie wirkten sie sich auf Produktion und Arbeitsbedingungen aus? Wie reagierte die Bevölkerung in den Dörfern auf die zumeist oktroyierte Umgestaltung?
Heinz hat zur Beantwortung seiner Fragen umfangreiche Quellenbestände genutzt. Neben Archivalien aus nahezu allen Ebenen der staatlichen Verwaltung sowie des SED-Apparates zählen dazu vor allem zahlreiche Zeitzeugeninterviews, sowohl mit einstigen Funktionären als auch mit Betroffenen vor Ort. Auch wenn bei der Lektüre mitunter der Eindruck entsteht, der Autor folge den Schilderungen der Zeitzeugen zu unkritisch, sind doch gerade sie es, die immer wieder Details und Zusammenhänge offenbaren, die sich aus den Archivunterlagen nur schwer rekonstruieren lassen. Dies gilt beispielsweise für all jene informellen Netzwerke, die dazu dienten, die Unzulänglichkeiten der Planwirtschaft auszugleichen und deren Bedeutung ständig wuchs.
Bei der Industrialisierung der Landwirtschaft habe es sich, so Heinz, tatsächlich um eine Agrarmodernisierung gehandelt. Dabei sind jedoch zwei grundlegende Einschränkungen zu beachten. Erstens blieb die Reichweite der Modernisierung, insbesondere in der Tierproduktion, beschränkt. Hohe Verwaltungskosten, mangelnde Technisierung, stagnierende Investitionen, eine ausgeprägte Arbeitskräftefluktuation und weitere Faktoren begrenzten die positiven Auswirkungen der Transformation. Zweitens wuchsen die negativen Folgen, insbesondere die Umwelt- und Flurschäden. Das konnte selbst die SED-Führung zu Beginn der 1980er Jahre nicht mehr ignorieren, und es setzte ein langsames Umdenken ein, ohne dass daraus allerdings eine grundlegende Revision der Agrarpolitik resultierte.
Insgesamt bietet die vorliegende Publikation am Beispiel der drei Nordbezirke der DDR - Rostock, Schwerin und Neubrandenburg - einen ebenso detaillierten wie überzeugenden Überblick über zwei Jahrzehnte der SED-Agrarpolitik, die bis heute nachwirken. Die Breite der behandelten Themen beeindruckt und reicht u. a. von der Bedeutung der Frauen in den landwirtschaftlichen Großbetrieben über den oftmals übermäßigen Alkoholkonsum bis hin zur Stellung der privaten Landwirtschaft. Deutlich wird dabei auch, dass es nie gelang, die angestrebte "Klasse" von Genossenschaftsbauern zu schaffen. Das besondere Verdienst des Autors ist es, bislang oftmals nur vermutete Sachverhalte empirisch gesichert darzustellen. Hier leistet die Studie Pionierarbeit. Insofern kann sie als wichtiger Beitrag zu einer noch zu schreibenden Agrargeschichte der DDR gewertet werden. Wer immer sich fundiert über die "Industrialisierungsphase" der DDR-Landwirtschaft informieren möchte, wird an diesem Buch nicht vorbeikommen.
Jens Schöne