Rezension über:

Falk Bretschneider: Gefangene Gesellschaft. Eine Geschichte der Einsperrung in Sachsen im 18. und 19. Jahrhundert (= Konflikte und Kultur - Historische Perspektiven; Bd. 15), Konstanz: UVK 2008, XXI + 614 S., ISBN 978-3-89669-624-3, EUR 59,00
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Rezension von:
Norbert Finzsch
Historisches Seminar, Universität zu Köln
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Schnettger
Empfohlene Zitierweise:
Norbert Finzsch: Rezension von: Falk Bretschneider: Gefangene Gesellschaft. Eine Geschichte der Einsperrung in Sachsen im 18. und 19. Jahrhundert, Konstanz: UVK 2008, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 9 [15.09.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/09/17223.html


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Falk Bretschneider: Gefangene Gesellschaft

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Falk Bretschneiders monumentale Dissertation an der École des Hautes Études en Sciences Sociales atmet den Geist der Grande Thèse und ist mit einer deutschen Dissertation nur schwer zu vergleichen. Das wird schon durch das Vorwort deutlich gemacht, das von keinem Geringeren als Jacques Revel stammt. Die Untersuchung ist dem Methodenapparat Michel Foucaults zutiefst verpflichtet, doch ist sie empirisch dicht und beeindruckend quellengesättigt, so dass Foucauldianische Konzepte zwar als Leitfigurationen dienen, Falk Bretschneider sich jedoch immer die Freiheit nimmt, Foucault dort zu kritisieren und zu erweitern, wo das Quellenmaterial dem großen französischen Historiker widerspricht. Diese Kritik bezieht sich nicht nur auf die umstrittene Chronologie des Gefängnisses in Foucaults Chef d'Œuvre Überwachen und Strafen (schematisch: Vor 1800 hätten die Körperstrafen überwogen, nach 1800 die Einsperrung), sondern der Autor stellt auch die anonyme Agency der "Disziplin" in Frage, die an die Stelle handelnder Personen getreten war, und ersetzt sie durch etwas, was die Soziologie Pfadabhängigkeit nennt und Bretschneider als Korridor bezeichnet (15). Bretschneider unterscheidet dabei praxeologisch zwischen Handeln, Verhalten und Praxis. Die methodologisch und heuristisch überaus sinnvolle Trennung von Herrschaft und Macht wird demgegenüber aber beibehalten, nicht zuletzt auch aus dem Wissen, dass frühneuzeitliche Herrschaftsansprüche sich selten durchsetzen ließen. Die Arbeit ist somit dem Dresdner "Institutionalisierungsansatz" verpflichtet, erweitert diesen Versuch, das konkrete Funktionieren von Institutionen zu untersuchen, jedoch durch einen Rückgriff auf Norbert Elias.

Die Arbeit ist in 22 Kapitel gegliedert, die sich wieder in sechs Großabschnitten gruppieren. Der erste Abschnitt umfasst die umfangreiche und theoretisch auf hohem Niveau argumentierende Einleitung und ein Kapitel zu Forschungsstand und Quellen. Hier finden Leserinnen und Leser alles, was zum Thema zu sagen wäre. Sachsens Geschichte der Einschließung ist ein Forschungsdesiderat, das Quellenmaterial ist reichhaltig, auch wenn gedruckte Quellen des 18. Jahrhunderts dazu tendieren, die Position der Eliten wiederzugeben; auch in den ungedruckten Verwaltungsakten sprechen die Insassen nur selten (36). Die Einlieferungsverzeichnisse, eine Massenquelle, die sich einer Gesamterhebung quantitativ entzieht, wurden durch Stichproben erschlossen. Die Stichprobenauswahl erscheint dabei willkürlich und wird nicht begründet. Die aus der Stichprobenauswahl resultierenden Bias werden vom Verfasser aber auch nicht beschönigt. Er muss mit der quantitativen Überrepräsentation des Zeitraums 1717-1720 leben. Die inhaltsanalytische Auswertung der Verwaltungsakten ist bereits in anderen Studien vorgenommen worden, wobei sich Bretschneider hier eng an Karl Härter orientiert und sich damit auf methodisch nicht auf alleraktuellstem Terrain bewegt. Erhellend sind die Bemerkungen des Verfassers zur "Gefangenenliteratur", also zu den Egodokumenten, die angeblich oder wirklich von Insassen verfasst worden sind. Hier hätte es geholfen, die angloamerikanische Fachliteratur stärker mit einzubeziehen, da in den USA die Produktionsbedingungen eines solchen Genres untersucht worden sind, wenn auch weniger für die Frühe Neuzeit. [1]

Der zweite Abschnitt "Armut, Zucht und Arbeit" gliedert sich in fünf Kapitel (Kapitel 3 bis 7), die sich auf die Zuchthäuser Sachsens konzentrieren. Zuchthäuser waren ja nicht zuerst und vorwiegend Strafanstalten, sondern dienten der "polizeylichen" Etablierung und Aufrechterhaltung eines protokapitalistischen Arbeitsethos. Das Waldheimer Schloss als Zuchthaus durchlief dabei die gleichen Entwicklungsschübe wie andere frühneuzeitliche Zuchthäuser. Die nur mühsam aufrecht zu erhaltende Trennung der einzelnen Insassenkategorien kollabierte angesichts sich verändernder demographischer und ökonomischer Merkmale der Insassen. Vor allem anderen ist der Wandel des Arbeitsbegriffs zu nennen, der die moraltheologische Definition zunehmend durch einen bürgerlichen Arbeitsbegriff ersetzte: "[...] eine unordentliche Praxis störten [sic] immer wieder die in den obrigkeitlichen Entwürfen einer Welt der Ordnung aufgestellten Muster" (147).

Der dritte Abschnitt "Verdienen und Strafen" umfasst die Kapitel 8 bis 12. Hier werden zunächst die Krise des "gemeinsamen Hauses" in der Folge des Siebenjährigen Krieges und die sich daran anschließenden Restaurationsversuche im Sinne einer Reform der Verwaltung und Wirtschaft analysiert. Neue Zuchthäuser in Torgau und Zwickau wurden in den 1770er Jahren errichtet und mit einer Lotterie finanziert, Zuchthausspinnereien stellten die Institutionen auf neue ökonomische Füße, doch wurden die Zuchthäuser auch zunehmend in die Strafjustiz einbezogen. Großen Raum nimmt der autobiographische Text des Insassen und Konvertiten Johann Friedrich Heinrich Selig ein, dem das zwölfte Kapitel gewidmet ist.

Der vierte Abschnitt "Die (schwierige) Geburt der Strafanstalt" fasst in seinem Titel den Inhalt der folgenden Analyse zusammen. Er beinhaltet die Kapitel 13 bis 16 und zeigt die nach 1800 mit großem Nachdruck betriebene Einführung eines Pönalsystems auf der Basis der Einschließung. Besonders aufschlussreich und gut zu lesen sind auch hier die Teilkapitel, die sich mit der Alltagspraxis des Strafvollzugs in den Gefängnissen beschäftigen. Der letzte Abschnitt "Im Takt von Reform und Reaktion" (Kapitel 17 bis 21) positioniert das neue System innerhalb der politischen Konfliktlage des Vormärz. Einhergehend mit der Kodifizierung des Strafrechts und der liberalen Kritik am Strafvollzug entfachte sich in Sachsen ein Systemstreit, der zum Teil aus den USA importiert worden war. Das Philadelphia System der Einzelhaft stand dabei im Wettstreit mit dem Auburn System der Schweigepflicht. Mit der Niederschlagung der 1848er Revolution waren liberale Träume auch im Bereich des Strafvollzugs ausgeträumt. Ein reaktionäres Strafrecht wurde instituiert, die Todesstrafe wieder eingeführt, die Prügelstrafe wurde regelhaft angewandt, die Freiheitsstrafen wurden verschärft. Ein sechster Abschnitt, eine Zusammenfassung von über 20 Seiten und ein ausführlicher Anhang runden das großartige Buch Falk Bretschneiders ab. Es schließt die Forschungslücke zur Geschichte der Einsperrung in Sachsen und bietet zahlreiche Anknüpfungspunkte für Vergleiche mit anderen deutschen Territorien. Die geleistete Quellenarbeit und die demonstrierte methodische Feinfühligkeit sind beispielhaft. Ein großer Wurf, der, wie alle großen Bücher, auch kleine blinde Flecken aufweist.


Anmerkung:

[1] Michael T. Davis / Iain McCalman / Christina Parolin (eds.): Newgate in Revolution: An Anthology of Radical Prison Literature in the Age of Revolution, London / New York 2005; H. Bruce Franklin: Prison Literature in America. The Victim as Criminal and Artist, New York 1989; Tara T. Green: From the Plantation to the Prison. African-American Confinement Literature, Macon, GA 2008; D. Quentin Miller: Prose and Cons. Essays on Prison Literature in the United States, Jefferson, NC 2005; Janet Pérez / Genaro J. Pérez: Hispanic Prison Literature, Lubbock, TX 1995.

Norbert Finzsch