Falk Bretschneider / Christophe Duhamelle: Le Saint-Empire. Histoire sociale (XVIe-XVIIIe siècle) (= Bibliothèque allemande), Paris: Éditions de la Maison des sciences de l'homme 2018, VIII + 315 S., 8 s/w-Abb., eine Tbl., 4 Kt., ISBN 978-2-7351-2395-7, EUR 23,00
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Die neueren Forschungen französischer Historiker zur Sozialgeschichte des Heiligen Römischen Reiches der Frühen Neuzeit lassen sich mit dem aus der Geometrie entlehnten Begriff der "Fraktalität" in Verbindung bringen, den Falk Bretschneider und Christophe Duhamelle in die geschichtswissenschaftliche Diskussion eingeführt haben. [1] Damit können die Multidimensionalität und die Komplexität des Alten Reiches, für die den rationalistischen Geisteshaltungen seit dem 18. Jahrhundert jedes Verständnis fehlte, auf einen Begriff gebracht werden. Konkret anwenden lässt sich der Terminus z.B. auf die "mehrskaligen" Prozesse der Gerichtsbarkeit. So untersuchte Falk Bretschneider die Praxis der Aktenversendungen zwischen den Gerichtshöfen und den juristischen Fakultäten Obersachsens, mit der sich Verbindungslinien zwischen der Rechtsprechung und der juristischen Expertise an den Universitäten nachziehen lassen. Diese Linien stehen für eine bestimmte Form von Vernetzung innerhalb des "fraktal" gedachten Alten Reiches und erlauben es, einen speziellen Raum der Rechtsfindung für dieses Gebiet zu rekonstruieren, der die territorialen Grenzen überstieg (147-165). Damit ist zugleich der Vorzug einer Herangehensweise "von außen" umrissen, für die Ressortabgrenzungen und Zuständigkeitsvermutungen der deutschen Geschichtsforschung nicht gelten. Eine solche Reichsgeschichte von außen muss sich über die Aufgabenverteilung zwischen genuiner Reichs- und staatsbezogener Landesgeschichte keine großen Sorgen machen. Dies gilt auch für die Demarkationslinie zwischen Profan- und Kirchengeschichte. Christophe Duhamelle führt beispielhaft aus, welche zusätzliche Perspektive von der französischen Geschichtsforschung bei der Betrachtung der konfessionellen Koexistenz im Reich des 17. / 18. Jahrhunderts eingebracht wird (217-235). Es versteht sich von selbst, dass bei diesen Reflexionen über eine neue Konzeption von Reichsgeschichte die Ergebnisse der Forschung im deutschsprachigen Raum präsent bleiben, deren Grundlinien von Matthias Schnettger in Erinnerung gerufen wurden (9-25).
Dem Ziel, die deutsche und die französische Sichtweise beim Blick auf die Sozialgeschichte des frühneuzeitlichen Reiches zu verbinden, war ein Forschungs- und Lehrprogramm (programme de formation recherche) des deutsch-französischen Forschungsnetzwerkes CIERA gewidmet, dessen Arbeitsergebnisse der Band dokumentiert. Einer der Schwerpunkte lag dabei auf dem Themenfeld der politischen Kommunikation. Dazu gehörten u.a. die Patenschaften als politische Praxis in den (reichs-)städtischen Außenbeziehungen (André Krischer) und die per se illegalen Verfahrensweisen am Wiener Reichshofrat (Thomas Dorfner). Wichtige Akteursgruppen für die Vernetzung der Höfe und der Kanzleien im Reich wurden ebenfalls analysiert, nämlich die Prinzessinnen (Katrin Keller) und die fürstlichen Minister (Sébastien Schick), wobei es galt, sich auf einige besonders aussagekräftige Beispiele zu beschränken. Im Rahmen des CIERA-Programms wurden ferner auch Überlegungen zu einer "neuen" Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Alten Reiches angestellt (Guillaume Garner). Am Beispiel von Fabrikanten in der Reichsstadt Nürnberg des 18. Jahrhunderts zeigt sich allerdings beispielhaft die Schwierigkeit, diese wirtschaftlichen Mitspieler unter Rückgriff auf das archivalische Quellenmaterial an das Reich rückzubinden, da sich die territoriale Obrigkeit als ökonomische Ordnungsmacht in den Vordergrund schob (Vincent Demont). Ein Politikum ersten Ranges blieben jedenfalls die Reichssteuern, zumal in Zeiten des Konflikts. Folglich wäre es durchaus den Versuch wert, eine Sozialgeschichte des Reiches von seiner Fiskalität und dem immer auch politischen Kontexten verpflichteten Abgabenwesen her zu denken (Rachel Renault).
Wie lässt sich nun der Begriff der Fraktalität weiterhin in konkrete Forschungsarbeit über das frühneuzeitliche Reich übersetzen? Ein Ansatzpunkt ist natürlich die kartographische Darstellung des Reiches (Axelle Chassagnette), ein weiterer müsste die Rekonstruktion des Reiches als Hochschulraum sein, ausgehend z.B. von der Göttinger Fakultät des 1746 an die musterhaft aufklärerische Georgia Augusta berufenen großen Staatsrechtslehrers Johann Stephan Pütter als zentraler Figur (Anne Saada). Aber auch das Passwesen innerhalb des Reiches, dessen Durchsetzung in Thüringen am Ende des 17. Jahrhunderts mit Auseinandersetzungen und groben Wortwechseln einherging (Luca Scholz), kann ein solcher Anknüpfungspunkt für weitere Arbeiten sein. Auch für die frühneuzeitliche Konfessionsgeschichte, zu der vieles schon gesagt wurde, lassen sich Ansatzpunkte für Innovationen finden. Beispielhaft enthält der Band Überlegungen zu den konfessionellen Migrationen (Naïma Ghermani) und zur Problematik der religiösen Minderheit in der Frühphase der Reformation (Marc Mudrak).
Der primär an ein französisches Publikum gerichtete Sammelband präsentiert Ergebnisse und Fortschritte der Forschung, die dazu beitragen, das Alte Reich von verkrusteten Wahrnehmungen zu befreien. In Komplementarität zur deutschen Historiographie kann ein derartiges Herangehen "aus der Nachbarschaft" die aus unmittelbarer Nähe nicht recht erkennbaren Zusammenhänge aufzeigen und zu ganz neuen Erkenntnissen führen. Damit soll die frühneuzeitliche Reichsgeschichte auch in der internationalen Forschung eine höhere Wertigkeit erhalten, so dass sie aus der relativen Isolierung des hochspezialisierten Wissens von vermeintlich geringer Alltagsrelevanz herausgelangt.
Anmerkung:
[1] Falk Bretschneider / Christophe Duhamelle: Fraktalität, Raumgeschichte und soziales Handeln im Alten Reich, in: Zeitschrift für historische Forschung 43 (2016), 703-746.
Thomas Nicklas