Berthold Riese: Das Reich der Azteken. Geschichte und Kultur, München: C.H.Beck 2011, 431 S., mit 53 überwiegend farbigen Abb. und 5 Karten, ISBN 978-3-406-61400-2, EUR 29,95
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Nach längerer Zeit ist endlich wieder ein deutschsprachiges Buch über die Azteken erschienen. Berthold Riese, vormals Professor für Altamerikanistik an der Universität Bonn, hat wie sein bereits zuvor emeritierter Bonner Kollege Hanns Prem [1] nunmehr im gleichen Verlag seine Sicht über die Kultur und Geschichte der Azteken dargelegt. Um es gleich vorwegzunehmen, Rieses Buch "Das Reich der Azteken - Geschichte und Kultur" unterscheidet sich in wesentlichen Punkten von Prem (1996) sowohl konzeptionell als auch inhaltlich. Gerade deswegen aber ergänzen sich beide.
Im Gegensatz zu Prems kürzerer Darstellung der politisch-territorialen sowie wirtschaftlichen Organisation der Azteken liegt Rieses Schwerpunkt vorrangig auf der Erschließung der Lebensläufe der wichtigsten aztekischen Herrscher. Sie werden chronologisch-genealogisch, angefangen bei Acamapichtli bis zum letzten von den Azteken selbst gewählten Herrscher Quauhtemoc, abgearbeitet. Dabei werden diese Herrscher in den Kapiteln IV bis VII grob den historischen Perioden frühdynastische Zeit, Konsolidierung und Expansion, das Zerbrechen des Reiches sowie spanische Eroberung und Kolonialzeit zugeordnet.
Allerdings hört Riese nicht wie meist üblich bei Quauhtemoc auf, sondern verweist im Kapitel IX zudem auf wichtige Nachfahren der aztekischen Herrscher, die bis Mitte des 16. Jahrhunderts aus Gründen der Machtkontrolle seitens der Spanier allesamt von diesen noch als Adlersprecher, das heißt als Herrscher über die Azteken, nominiert wurden. Ebenfalls Erwähnung finden verschiedene weitere aztekische Adlige und ihre Rolle nach der spanischen Eroberung. Damit bietet der Autor Einblicke in ein Kapitel aztekischer Geschichte, das nach wie vor unterbelichtet ist.
Die Lebensläufe der aztekischen Herrscher und Nachfahren werden von Riese ausgiebig auf wesentliche Persönlichkeitsmerkmale, Verwandtschafts- und Heiratsbeziehungen sowie auf Erfolg und Misserfolg in der Herrschaft durchleuchtet. Angereichert werden diese wiederum durch einprägsame Episoden oder Anekdoten wie die Brautwerbung des aztekischen Herrschers Huitzilihuitl (121f.) oder in einem anderen Zusammenhang die pittoreske Liebeskrankheit einer Prinzessin (235). Schließlich werden die einzelnen Herrscherdarstellungen um weitere wichtige die aztekische Geschichte und Kultur betreffende sachthematische Zusammenhänge erweitert. Hierzu zählen Geburt und Erziehung, Namensgebung, Sexualität, Krankheit, Umwelt, Kriege, Feste, Rituale sowie Tod und Bestattung. In diesem Sinne wird das Buch auch dem Untertitel "Geschichte und Kultur" gerecht.
Methodisch werden vom Autor ausschließlich in der aztekischen Sprache Nahuatl verfasste Quellen (allesamt durch die Eroberung bedingt erst in der Kolonialzeit entstanden bzw. kopiert) verwendet. Das heißt, Riese verzichtet in seiner Interpretation bewusst auf eine wissenschaftskritische Auseinandersetzung mit Forschungsansätzen aus der Sekundärliteratur. Hierin liegt auch ein Manko, wenn man sein Buch unter einem solchen Begutachtungspunkt zu Rate zieht. Nimmt man sich hingegen seiner Sichtweise an, nur durch Verwendung der genannten Quellen gewissermaßen empathisch in die Kultur und Geschichte der Azteken einzudringen (9), so ist sein Ansatz, wenn auch nicht neu, zumindest vertretbar.
Für einige der wichtigsten von ihm verwendeten Quellen findet sich auch eine kurze, aber dennoch ansprechende Erläuterung zur Quellengenese (54ff.). Seine Form der Quellennutzung hat auch eine praktische Seite: der Leser wird häufig mit von ihm oder anderen Autoren ins Deutsche übersetzten Originalzitaten beglückt. Dadurch wird auch ein gewisser Einblick in die aztekische Erzähl- und Denkweise gegeben.
Lesern, die sich erstmals mit der aztekischen Geschichte und Kultur anhand seines Buches vertraut machen, wird allerdings empfohlen, nach den ersten drei einleitenden Kapiteln über Herkunft, Sprache, Schrift und Kalender und Einordnung der Azteken in Mesoamerika, zunächst unmittelbar das Kapitel VIII zu studieren. Denn in diesem werden nicht nur, wie die Kapitelüberschrift es besagt, das "Muster einer Herrschervita", sondern auch einige weitere wichtige Merkmale aztekischer und mesoamerikanischer Kultur, wie zum Beispiel Kindheit, Amtseinsetzung, herrschaftliche Rituale und Macht sowie Tod und Bestattung, zusammenfassend besprochen. Damit gerüstet werden die in die Lebensläufe der Herrscher eingebetteten sachthematischen Abhandlungen in den Kapiteln IV bis VII leichter verständlich.
Während viele kulturelle Eigenschaften vom Autor thematisiert werden, bleibt er die Antwort schuldig, was eigentlich mit "aztekischem Reich" gemeint ist. Auch die Bedeutung der Wahrsagerei für politische Geschicke, allen voran in Bezug auf die Ankunft der Spanier, und damit einhergehend die daraus resultierenden internen Konflikte werden von Riese nur ansatzweise erläutert (258ff.). Gerade aber diese kulturelle Logik ist zentral, um zu verstehen, warum eine so gut durchorganisierte Gesellschaft, die es gewohnt war, Kriege zu führen, gegen eine relativ kleine spanische Truppe, wenn auch von anderen Einheimischen unterstützt, sich nicht zur Wehr zu setzen wusste. [2] Desweiteren fehlen für das von Riese behandelte zentrale Thema der aztekischen Herrschaft wichtige Forschungsarbeiten, in deren Mittelpunkt selbst aztekische Primärquellen stehen, wie die deutschsprachige Analyse der aztekischen Thronreden. [3]
Inhaltlich bleibt noch anzumerken, dass der Autor an einigen Stellen zwar die Bedeutung der Azteken auch für das kulturelle Gedächtnis im modernen Mexiko anspricht (61ff.), jedoch im Epilog nur auf zwei im zeitgenössischen Mexiko weiterhin in Erinnerung gehaltene aztekische Herrscher verweist. Hier hätte man sich unter Einbeziehung der durch die Unabhängigkeit Mexikos im 19. Jahrhundert ausgerichteten neuen Staatsdoktrin auf die "Mexica" (wie sich die Azteken nach ihrer Sesshaftwerdung eigentlich selbst nannten), gerne auch ein weit ausführlicheres Kapitel zu diesem Thema gewünscht. [4]
Das Buch ist mit etlichen Illustrationen versehen, von denen viele vom Autor anschaulich und ausführlich kommentiert sind. Dies gilt insbesondere für die Darstellung der Herrschernamen aus den von ihm verwendeten Quellen der frühen Kolonialzeit. Weniger gut gelungen ist die kartographische und die illustrative Aufarbeitung der Genealogie. So findet sich in den ersten drei Kapiteln keine Karte, die dem Leser einen Überblick über das "aztekische Reich" von den Anfängen bis zum Zerfall durch die spanische Herrschaft verschafft. Man muss sogar erst fast zum Ende des Buches gehen (296, Karte 5), um sich anhand einer dort vorhandenen Karte die Seenlandschaft vor Augen zu führen, von der zuvor immer wieder gesprochen wird. Auch werden die Herrscher in ihrer Abfolge nur über die einzelnen Kapitel gut fassbar oder man muss sich der brauchbaren Zeittafel wiederum am Ende des Buches bedienen. Von Vorteil sind hingegen das Vorhandensein und die Gestaltung des Registers. Hier findet man alle wichtigen im Buch verwendeten Begriffe wieder, sogar mit Übersetzung der aztekischen ins Deutsche.
Zusammenfassend ist Rieses Buch eine Bereicherung in der Darstellung aztekischer Geschichte und Kultur, wenngleich kein Buch mit explizit forschungskritischer Ausrichtung und Interpretation. Es ist vermutlich daher eher für den sehr interessierten Laien gedacht, der keine populistische Darstellung, aber ebenso wenig eine allzu wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der aztekischen Kultur und Geschichte wünscht. Für jeden anspruchsvollen Mexiko-Interessierten sollte es aber eine Pflichtlektüre sein.
Anmerkungen:
[1] Hanns Prem: Die Azteken. Geschichte, Kultur und Religion. München 1996.
[2] Vgl. Daniel Grana-Behrens: Der Zerfall des aztekischen Staates in Zentralmexiko 1516-1521, in: John Emeka Akude u.a. (Hgg.): Politische Herrschaft jenseits des Staates. Zur Transformation von Legitimität in Geschichte und Gegenwart. Wiesbaden 2011, 53-82.
[3] Claudine Hartau: Herrschaft und Kommunikation. Analyse aztekischer Inthronisationsreden aus dem Codex Florentinus des Fray Bernardino de Sahagún. Hamburg 1988.
[4] Vgl. Daniel Grana-Behrens: Lateinamerikas Erinnerungskultur am Beispiel von Guatemala und Mexiko - Ein Streifzug durch die neuzeitliche Kulturpolitik beider Regionen, in: Sarah Albiez / Sophie Müller (Hgg.): China und Lateinamerika. Ein transpazifischer Brückenschlag. Lateinamerika im Fokus. Bd. 4. Berlin 2007, 87-135.
Daniel Graña-Behrens