Gernot Michael Müller (Hg.): Humanismus und Renaissance in Augsburg. Kulturgeschichte einer Stadt zwischen Spätmittelalter und Dreißigjährigem Krieg (= Frühe Neuzeit. Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext; Bd. 144), Berlin: De Gruyter 2010, VIII + 541 S., ISBN 978-3-11-023124-3, EUR 119,95
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Dass Augsburg eines der bedeutendsten Zentren des Humanismus und der Renaissance in Deutschland war, ist allgemein bekannt. Namen wie Konrad Peutinger, Marcus Welser oder Elias Holl stehen für eine kulturelle Blüte, die seit langem das Interesse zahlreicher Wissenschaftler geweckt hat. Das 475. Gründungsjubiläum des Gymnasiums bei St. Anna im Jahre 2006 bot den äußeren Anlass, die vielfältigen Forschungsergebnisse im Rahmen einer interdisziplinären Tagung zusammenzuführen. Dadurch sollte nichts weniger als eine Kulturgeschichte Augsburgs in dieser Epoche entstehen.
Das klingt ambitionierter als es in Wirklichkeit ist, denn es geht auch bei dem nun vorliegenden Sammelband, der die 19 Vorträge dieser Tagung präsentiert, keineswegs um die Schaffung eines vollständigen Gesamtbildes im Sinne einer histoire totale. Das Vorhaben orientiert sich vielmehr an den Prinzipien der jüngeren Kulturgeschichte, die keine ganzheitliche Geschlossenheit anstrebt. [1] Sie widmet sich stattdessen der Erforschung "der Sinnstiftungs- und Deutungshorizonte der historischen Akteure" (6) in allen gesellschaftlichen Feldern. Dem entspricht ein ebenfalls weit gefasster Humanismusbegriff, der die Einflüsse einer an der klassischen Antike orientierten Gelehrsamkeit in allen Bereichen berücksichtigt, also auch in Politik, Wirtschaft oder Verwaltung.
Der Gefahr, mit diesem Ansatz die Kompilation letztlich unzusammenhängender Spezialstudien zu befördern, entgeht der Sammelband auf wohltuende Weise. Die in neun thematisch ausgerichteten Abteilungen organisierten 19 Aufsätze berühren zwar viele, auf den ersten Blick sehr disparate Felder, wie z.B. das Schuldrama, die lateinische Epigraphik, die Edition byzantinischer Historiker, die monastische Chronistik oder die künstlerische Gestaltung von Kapellen und Kirchen. In ihrer Summe lassen sie aber erkennen, wie philologische Forschung und Geschichtsschreibung, Verwaltung und Politik, bildende Kunst und Wirtschaft miteinander verwoben waren und von humanistischem Gedankengut geprägt wurden. Dabei werden rote Fäden sichtbar, die bei der isolierten Lektüre eines Aufsatzes verborgen bleiben. Ein Beispiel dafür ist die auf vielen Ebenen angestrebte Aufwertung Augsburgs durch eine literarische, künstlerische und wissenschaftliche Verknüpfung mit italienischen Vorbildern. Die Beiträge von Caspar Hirschi, Gernot Michael Müller, Martin Ott und Christoph Bellot ergänzen sich hier auf instruktive Weise. Interessant ist auch die Beobachtung, dass humanistische Gelehrsamkeit die wachsende Kluft zwischen den Konfessionen immer wieder überwinden konnte, wie die Studien von Magnus Ulrich Ferber und Alois Schmid zeigen.
Eine weitere Verklammerung der Einzelstudien bilden die behandelten Protagonisten. Ob man sich Fragen der Augsburger Reformationsgeschichte oder der Beziehungen zwischen Stadt und kaiserlichem Stadtherrn zuwendet, stets stößt man auf die gleichen Namen, wie die von Veit Bild, Sigismund Gossembrot, David Hoeschel, Sigismund Meisterlin, Konrad Peutinger und natürlich Marcus Welser. Dies zeigt die vielfältigen Interessen und Aktivitäten dieses Personenkreises. Darin spiegelt sich aber auch das bekannte Netzwerk, das die Augsburger Gelehrten untereinander und weit über die Grenzen ihrer Stadt hinaus pflegten. Dank eines umfangreichen Namens- und Ortsregisters (527-539) lassen sich die Bezüge über alle Beiträge hinweg sehr gut nachverfolgen.
Wenn die überwiegende Mehrheit der Autoren sich allerdings auf die Betrachtung von Einzelpersonen konzentriert und sie dabei überwiegend deren philologischen Aktivitäten untersuchen, dann werden die programmatisch vorangestellten Möglichkeiten eines erweiterten Humanismusbegriffes und einer unter anderem auch symbolische Handlungen als Quellen nutzenden Kulturgeschichte noch sehr vorsichtig genutzt. Schade eigentlich - dabei kann es sehr ertragreich sein, neue Wege zu gehen und bislang meist getrennt behandelte Themen miteinander in Beziehung zu setzen. Das zeigen zum Beispiel der Beitrag von Wolfgang E. J. Weber zum Thema Humanismus und reichsstädtische Politik (87-99), die Studie von Mark Häberlein über das Wirken von Leonhard Rauwolf als Arzt und Orientreisender (101-116) und die Arbeit von Silvia Serena Tschopp über die politischen Dimensionen des Schultheaters bei Sixt Birck (187-215).
In seiner überaus lesenswerten Einführung (1-28) weist der Herausgeber selbst darauf hin, dass gerade auf diesen Feldern zukünftige Forschungsschwerpunkte liegen müssten. Reizvoll wäre es auch, der Frage nachzugehen, in welcher Weise sich die humanistische Kultur Augsburgs von der Mitte des 15. Jahrhunderts bis zum Vorabend des Dreißigjährigen Krieges entwickelt oder verändert hat. Erste thesenartige Antworten kann Klaus Unterburger entwickeln, der sich mit dem "Einfluss des Humanismus auf die Ausbildung konfessioneller Wissenskulturen" beschäftigt hat (61-84). Sie regen dazu an, diese diachrone Betrachtungsweise auch bei anderen Themen anzuwenden.
Insgesamt legt Gernot Michael Müller einen Sammelband vor, der durchweg anspruchsvolle, sich wechselseitig ergänzende Beiträge präsentiert und vielfältige Impulse für zukünftige kulturhistorische Forschungen bietet. Er verdient es, als Ganzes rezipiert zu werden.
Anmerkung:
[1] Vgl. Silvia Serena Tschopp / Wolfgang E. J. Weber: Grundfragen der Kulturgeschichte, Darmstadt 2007, 7-9 und 72-82.
Peer Frieß