Michael A. Reynolds: Shattering Empires. The Clash and Collapse of the Ottoman and Russian Empires 1908-1918, Cambridge: Cambridge University Press 2011, XIV + 303 S., diverse s/w-Abb., 2 Karten, ISBN 978-0-521-14916-7, GBP 19,99
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Michael A. Reynolds: Shattering Empires. The Clash and Collapse of the Ottoman and Russian Empires 1908-1918, Cambridge: Cambridge University Press 2011
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Der Vergleich und die Beziehungsgeschichte imperialer Herrschaftsstrukturen hat sich zu einem wichtigen Thema der Russland-Historiographie entwickelt.
Dominic Lieven hatte schon 2003 eine Monographie veröffentlicht, die die Geschichte des Zarenreiches zu der anderer europäischer Imperien in Beziehung setzte. [1] Während Lievens Buch eher den Charakter einer Überblickdarstellung hatte, versuchte Alexander Morrison sich einige Jahre später an einer vergleichenden Studie zu kolonialer Herrschaft im russischen Zentralasien und in Britisch-Indien. [2] Mehrere Sammelbände haben sich außerdem methodischen Fragen des Vergleichs und der Beziehungsgeschichte von Imperien gewidmet. [3]
Michael Reynolds Buch über die Beziehungen des Zarenreiches mit dem Osmanischen Reich ist ein wichtiger und in vielen Punkten wegweisender Beitrag zu dieser Forschung. Dass der Autor gleichermaßen osmanische und russische Quellen aus verschiedenen Archiven vor allem in Moskau und Istanbul ausgewertet hat, ist schon aufgrund der sprachlichen Herausforderungen eine enorme Leistung. Gerade aus Sicht der Russlandforschung liegt die Bedeutung einer russisch-osmanischen Beziehungsgeschichte auf der Hand.
Shattering Empires erkundet Verbindungen und Wechselwirkungen zwischen der Geschichte des Zarenreiches und des Osmanischen Reiches im Zeitraum von 1908 bis 1918. Die Darstellung gibt einen umfangreichen Überblick über die politischen Beziehungen zwischen beiden Imperien und behandelt zentrale Ereignisse aus diplomatiegeschichtlicher Sicht, so etwa den Ausbruch des Ersten Weltkrieges, oder auch die Vertragsverhandlungen von Brest-Litowsk. Besonders breiten Raum gibt der Autor aber den lokalen und regionalen Aspekten der russisch-osmanischen Beziehungen in der Kontaktzone zwischen den beiden Imperien im Kaukasus und in Ostanatolien. Ausführlich behandelt er die russischen und osmanischen Beziehungen mit verschiedenen in beiden Imperien vertretenen Bevölkerungsgruppen, vor allem Armeniern und Kurden.
Gegenüber einer Sichtweise der russisch-osmanische Konfrontation als "clash of civilizations" betont Reynolds auf überzeugende Weise die Wechselhaftigkeit der Allianzen: auch wenn Russland sich traditionell als Schutzmacht der Armenier im Osmanischen Reich verstand, so wurde diese Rolle doch gleichzeitig durch die Politik armenischer Revolutionäre radikal in Frage gestellt. Einige dieser Revolutionäre spielten gleichzeitig im Osmanischen Reich eine wichtige Rolle in der Revolution von 1908 und waren Verbündete der jungtürkischen Bewegung. Bis in die Zeit des Ersten Weltkrieges hinein, so demonstriert Reynolds anhand russischer Quellen, war eine osmanisch-armenische Allianz zumindest im Bereich des Denkbaren. Während des Krieges unterstützte das russische Militär nicht nur die Armenier, sondern auch die oft mit ihnen verfeindeten Kurden, die sich von den jungtürkischen Reformen in ihrer Autonomie bedroht sahen. Die armenisch-kurdische Auseinandersetzung, so spitzt Reynolds die Konflikte in der russischen Bürokratie zu, "began to consume the Tsarist bureaucracy itself" (165). In der Schilderung der politischen Dynamik Ostanatoliens während des Krieges gelingt Reynolds gleichzeitig eine gute Darstellung der systematischen Vertreibung und Ermordung der armenischen Bevölkerung, ohne dass dabei die Leiden der muslimischen Bevölkerung aus dem Blick geraten.
Reynolds versucht außerdem die Ereignisse analytisch auf einen Nenner zu bringen. In Anlehnung an die realistische Schule in der Theorie der internationalen Beziehungen formuliert er seine zentrale These, dass die Ereignisse in der Grenzregion, und letztlich der Niedergang beider Imperien, nicht aus dem Aufkommen nationalistischer Bewegungen zu erklären sind, sondern dass umgekehrt Nationalismus selbst ein Ergebnis inter-imperialer Rivalitäten in einem überaus kompetitiven internationalen Staatensystem war. So entstanden Autonomiebestrebungen der Kurden in Ostanatolien wesentlich erst als Folge von Zentralisierungsbemühungen des osmanischen Staates, die wiederum mit der bedrängten internationalen Situation des Imperiums zusammenhingen. Auch die Unabhängigkeit der neuen Nationalstaaten im Kaukasus nach 1917 sieht Reynolds nicht primär als Ergebnis eigenständiger nationalistischer Bewegungen, sondern als von der geopolitischen Machtkonstellation erzwungene Übernahme eines für die lokalen Bedingungen nur wenig geeigneten Modells von Nationalstaatlichkeit. Reynolds gibt damit ein deutliches Plädoyer für eine geopolitische Deutung der beiden Imperialgeschichten ab.
Diese Deutung erfasst zwar zutreffend die prekäre Natur der postimperialen Ordnung in der Region. Allerdings privilegiert Reynolds Erzählung dabei eindeutig die Perspektive von imperialen Eliten, die Kurden, Armenier und andere Gruppen vor allem aus der Perspektive ihrer Nützlichkeit für die jeweilige Außenpolitik sahen. Er zeigt zwar oft, wie lokale Akteure, etwa der Kurdenführer Abdürrezzak Bedirhan, die russische Außenpolitik für ihre eigenen Ziele nutzten. Aber dies wird nicht mit einer breiteren Darstellung der Lebenswelt der kurdischen Stämme und ihrer Wahrnehmung der russisch-osmanischen Beziehungen verbunden. Es wird deswegen auch nicht klar, welche politischen Vorstellungen sie jenseits von imperialen oder nationalen Loyalitäten hatten.
Für Transkaukasien hat Reynolds auf eine Auswertung der Archivmaterialien in Baku, Yerevan und vor allem Tbilisi, wo sich das Zentrum der russischen Verwaltung im Kaukasus befand, verzichtet. Auch die Presse aus der Region hat Reynolds nicht berücksichtigt. Angesichts der umfangreichen osmanischen und russischen Materialien ist dies sicher verzeihlich. Jedoch hätten Quellen aus dem Kaukasus mehr über diejenigen, die zwischen den beiden Imperien lebten, erzählen können und vielleicht neue Deutungen jenseits des altbekannten Themas von der Rivalität der Großmächte angeregt.
Trotz dieses Einwandes wird die weitere Forschung in Reynolds Buch viel Inspiration finden. Es wäre zu wünschen, dass dabei über eine klassische Geschichte zwischenstaatlicher Beziehungen hinaus die Sozial- und Kulturgeschichte der verschiedenen an den russisch-osmanischen Beziehungen beteiligten Akteure besser mit der internationalen Geschichte verknüpft wird. Angesichts dessen, dass die russisch-osmanische Konfrontation ein wesentliches Thema der Geschichte von Europas Außenbeziehungen im 19. Jahrhundert ist, könnte eine so orientierte Forschung auch der Methodendiskussion in der internationalen Geschichte wichtige Impulse geben.
Anmerkung:
[1] Dominic Lieven: The Russian Empire and its Rivals, London 2003.
[2] Alexander Stephen Morrison: Russian rule in Samarkand, 1868 - 1910 A comparison with British India, Oxford 2008.
[3] Siehe Guido Hausmann / Angela Rustemeyer / Andreas Kappeler (Hgg.): Imperienvergleich Beispiele und Ansätze aus osteuropäischer Perspektive. Festschrift für Andreas Kappeler, Wiesbaden 2009 sowie Martin Aust / Ricarda Vulpius / Alexei Miller (eds.): Imperium inter pares, Moskva 2010.
Moritz Deutschmann