Sébastien Allard / Marie-Claude Chaudonneret: Le Suicide de Gros: Les peintres de l'Empire et la génération romantique, Gourcuff Gradenigo 2010, 159 S., 60 Abb., ISBN 978-2-35340-090-4, EUR 29,00
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"Vom Jahre 1835 wird die französische Schule ihre Geschichte zwischen zwei Leichname, des [...] berühmten Malers Leopold Robert, der sich am 20sten März 1835 in Venedig im 38sten Jahre seines Lebens aus Schwermuth ermordete, [...] und den von Gros, einem der berühmtesten Meister, einschließen können", hieß es 1836 im Journal der practischen Heilkunde von Hufeland, eine der meistgelesenen medizinischen Zeitschriften Deutschlands. [1] Am 26. Juni 1835 hatte Antoine-Jean Gros, einstiger Malerstar des Empire, fünfundsechzigjährig und ohne offensichtlichen Grund in einem Wald bei Paris "freiwillig sein Leben geendigt". Der unerwartete Suizid eines alten berühmten Malers bewegte die Öffentlichkeit sehr. Standen Kunstwerke, Künstlerschicksale und Kritikerworte im Paris der 1830er-Jahre ohnehin im Brennpunkt bürgerlicher und journalistischer Aufmerksamkeit, kam hier noch der Selbstmord als Faszinosum hinzu, die Lust am phrenologischen Deutungsmuster und das Interesse für die sozialen Bedingungen von Genie und Wahnsinn. Gros, hieß es lange, sei von den unerbittlichen Salonkritiken des Jahres 1835 in die Verzweiflung getrieben worden - ein implizites Zugeständnis an die vermeintliche Macht der Kritik im Frankreich des 19. Jahrhunderts.
Nun aber hat das Dreamteam [2] der französischen Romantikforschung die "Akte Gros" wieder geöffnet: Für Marie-Claude Chaudonneret, Forscherin am Centre National de la Recherche Scientifique, und Sébastien Allard, Kurator am Département des peintures im Musée du Louvre, ist Gros' später Selbstmord weit mehr als der verzweifelte Akt eines Einzelnen und muss als Symptom einer schweren Krise im Pariser Kunstbetrieb der Restauration verstanden werden - eine durch neue Freiheiten ausgelöste "crise d'adaptation" nach vielen Jahren napoleonischem Kunstdirigismus in Frankreich. Spätestens hier wird deutlich: Hinter der programmatischen Fokussierung auf den prominenten Leichnam und den biografischen Aufhänger des Titels entfaltet sich hier auf knappen 150 Seiten eine der packendsten kunsthistorischen Studien der letzten Jahre überhaupt.
Die Initialzündung gibt also der Freitod des alten Malers Gros im Wald von Meudon im Juni 1835. Kunst und Krise, Ruhm und Versagen, Unsterblichkeit und Tod: Im ersten Kapitel (13-23) skizzieren die Verfasser eine vergleichende Rezeptionsgeschichte des (plötzlichen) Künstlertodes im romantischen Jahrzehnt in Frankreich: Girodet soll kurz vor der fatalen Operation, die ihn das Leben kostete, trotz plagenden Schmerzen ein letztes Mal sein Atelier besucht und sich von seiner Palette verabschiedet haben († 1824). Das lange Sterben von Géricault an den Folge eines spektakulären Reitunfalls dokumentierten seine Freunde gleich mehrfach in Skizzen und Gemälden († 1824). Zu Guérins Tod in Rom sollen bei seinen Adepten Ströme von Tränen geflossen sein († 1833). Und als Léopold Robert († 1835) sich einige Monate vor Gros' Tod aus Liebeskummer die Kehle durchschnitt, tat er dies, der Legende zufolge, wenigstens im Angesicht seiner Kunst. Lauter "belles morts" (18), die mit Gros' letzten Stunden in einem entlegenen Wald ideal kontrastieren. Denn genau darauf kommt es den Verfassern an: aus der scheinbaren Banalität seines Aktes schöpfen sie die Kraft ihrer kunstwissenschaftlichen Argumentation. Der Tod von Gros ist nur ein Vorspiel. Was danach folgt ist der Versuch, kunstsoziologische, institutionelle und ästhetische Antworten zu finden auf die Frage: Warum? Warum er? Und warum 1835?
Da geht es also zunächst um die politische Zäsur, die das Jahr 1815 für ganz Europa bedeutete und um die Implikationen, die sie in ästhetischer und sozialer, ja wirtschaftlicher Hinsicht für die Künstler in Frankreich hatte. Welchen Spielraum hatten die bereits in sehr jungen Jahren zu Ruhm und Ehre gelangten Malerstars Napoleons, sich jetzt, als Mittvierziger, den neuen institutionellen Rahmenbedingungen anzupassen? War es denn für Künstler - und ist es - überhaupt möglich, einen in Zeiten politisch gesteuerter Kunstausübung entwickelten Stil, eingeübte Motive und erfolgreiche "Tricks" von einen auf den anderen Tag aufzugeben? Wie sollten Historiengemälde nun aussehen, wo der "Feind" von damals der Auftraggeber von heute war? War die bildpropagandistische Ikonografie der napoleonischen Zeit nicht ohnehin so geartet, dass sie unabhängig von Narration und Dargestellten unverkennbar "napoleonisch" wirkte - also: nicht zu "recyceln" war? Und was bedeutete dies nun auftragstechnisch?
Auf diese Fragen, die übrigens nicht nur die Stunde Null des französischen 19. Jahrhunderts, sondern alle Momente politischen Neuanfangs nach Zeiten staatlich gesteuerter Kunstausübung betreffen, antwortet das zweite Kapitel "Les peintres de l'empire dans la nouvelle société" (25-71). Darauf folgt, dramaturgisch sehr überzeugend, ein Schwenk zu den jüngeren, unbefangenen und - aus der Perspektive der Alten - "gefährlich guten" (76) Zwanzigjährigen, nicht nur jene "Dissidenten" wie Géricault oder Delacroix, die das Koordinatensystem der Historienmalerei grundlegend verändern sollten, sondern auch der sensationell erfolgreiche Militär- und Schlachtenmaler Horace Vernet und natürlich auch der "harte" Ingres, dem es gelang, Ideal und Realismus so zu fusionieren, dass daraus eine regenerierte, "vraie peinture d'histoire" (78) entspringen konnte. Die für die Kunstproduktion und den Kunstdiskurs in Europa des 19. Jahrhunderts so zentrale Frage der Historienmalerei steht hier im Zentrum eines Kapitels, dass durchgehend aus der beobachtenden, mal melancholischen, mal verbitterten Perspektive der Alten, der Überholten geschrieben wird.
Im letzten Kapitel "Les ateliers à l'épreuve du Salon et du Musée" (107-137) werden die Ausstellungsstrategien und ausbildungstechnischen Kalküle der jungen Malergeneration um 1830 vergleichend untersucht, in einem Kontext extremer Konkurrenz der großen Lehrwerkstätten - auch ein Bereich, wo Antoine-Jean Gros, der ja das prestigeträchtige Atelier von Jacques-Louis David nach dessen Exil nach Brüssel 1816 übernommen hatte, schmerzhaft scheiterte. Also warum dieser Suizid und warum 1835? Weil Gros, im Gegensatz zu manchen seiner Kollegen, es laut Allard und Chaudonneret nicht vermochte, mit Geschmeidigkeit den beispiellosen Veränderungen zu begegnen, die das französische "Système des Beaux-Arts", den staatlich gesteuerten Kunstbetrieb, nach 1815 trafen: Gros, schreiben sie, "wurde zum ohnmächtigen Zeugen einer regelrechten Revolution. [...] Die individuelle Affirmation der Künstler, die sich sowohl an den frechen coups der Jugend im Salon ablesen lässt, als auch an der Hartnäckigkeit, mit der Ingres seine bizarre Art durchzusetzen vermochte, hatte den staatlichen Kunstbetrieb in seinen Grundlagen ausgehöhlt". Einige verstanden schnell, dass sie keine Chance mehr hatten und zogen sich zurück. Gros versuchte Widerstand zu leisten - und er bezahlte mit seinem Leben.
Mit Le suicide de Gros ist Sébastien Allard und Marie-Claude Chaudonneret ein wunderbares Werk gelungen. Die beiden demonstrieren einmal mehr ihre bewundernswerte Fähigkeit, eine Kunstgeschichte zu schreiben, die institutionsgeschichtlich und im Sinne einer Geschichte des Geschmacks, sozialhistorisch und ästhetisch argumentiert. Selbst das Buch als Objekt, in seiner eleganten Gestalt, scheint es sagen zu wollen: zwischen den sorgfältig ausgewerteten historischen Quellen und den ikonografischen Analysen herrscht keinerlei Hierarchie; hier fügen sich ausgezeichnete Gemäldereproduktionen und kluge, überraschende Zitate aus historischen Berichten und Briefen zu einem ganz großen, originellen Ganzen zusammen. Noch mehr!
Anmerkungen:
[1] Dr. Schlegel: Zur Kunde einzelner Fälle des Selbstmordes. Von dem Geheimen Hofrathe und Ritter Dr. Schlegel, zu Meiningen, in: Journal der practischen Heilkunde, 10. Stück (October 1836), Bd. 76, 15.
[2] Vgl. auch Sébastien Allard / Marie-Claude Chaudonneret: Ingres - La Réforme des Principes: 1806-1834, Lyon 2006.
Bénédicte Savoy