Barbara Thums / Annette Werberger (Hgg.): Was übrig bleibt. Von Resten, Residuen und Relikten (= Frankfurter Kulturwissenschaftliche Beiträge; Bd. 4), Berlin: trafo 2009, 209 S., ISBN 978-3-89626-721-4, EUR 34,80
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Dieser Band macht neugierig, sein Einleitungstext ist viel versprechend und lässt ahnen, mit welch ergiebigen Kategorie man es bei Resten und Relikten zu tun hat. In Kunstgeschichte, Philosophie, Ästhetik, Soziologie, Ökonomie, ja selbst in Elektrizität haben sie weit mehr als nur Spuren hinterlassen; sie sind in ihrem Status so essentiell, dass sie kaum mehr wegzudenken sind. Die italienische Kommunikationswissenschaftlerin Elena Esposito begreift Reste deswegen als Strukturmerkmal der Moderne. Friedrich Kittler stellte die These auf, dass die empirischen Kulturwissenschaften im 19. Jahrhundert aus der Restverwertung hegelianischer Abfälle erwachsen seien. Die Konzeption des Sammelbandes konterkariert allerdings die hohen Erwartungen, die die Exposition weckt. Sein Ertrag hätte weitaus größer sein können, wenn seine Herausgeberinnen beherzter den interdisziplinären Dialog gesucht hätten. Unter den hier versammelten neun Aufsätzen finden sich keine Beiträge aus der Philosophie, keine aus der Geschichtswissenschaft, keine aus der Kunstgeschichte. Stattdessen rücken Vertreter moderner Philologien mit ihren textuellen Werkzeugen dem Phänomen des Restes zu Leibe; allenfalls Markus Krajewski bringt einen erfrischenden Akzent aus medienwissenschaftlicher Sicht. Vielleicht haben die Herausgeberinnen seinen Beitrag deswegen vorangestellt, damit der monodisziplinäre Blickwinkel nicht bereits den ersten Blick beeinträchtigt.
Auch fällt auf, dass mehr als die Hälfte der Autoren dieses Bandes derzeit an der Tübinger Universität tätig sind, die damit der Tagung, aus der der Sammelband erwachsen ist, mehr den Stempel einer internen Ringvorlesung aufgeprägt haben. Das Konzept dieses Sammelbandes fügt sich zugleich ein in Tendenzen, die auch in anderen geisteswissenschaftlichen Fächern zunehmend spürbar werden. In großer Selbstgewissheit der eigenen Disziplin duldet man Interdisziplinarität nur aus innerdisziplinärem Blickwinkel. Inzwischen scheint jede Disziplin in Eigenregie Kulturwissenschaft zu betreiben: es gibt eine kulturwissenschaftlich orientierte Geschichtswissenschaft, eine kulturwissenschaftlich orientierte Kunstgeschichte, wahrscheinlich auch eine kulturwissenschaftlich orientierte Philosophie - und alle veranstalten Tagungen mit verwandten Themen und sind froh, unter sich zu bleiben.
Dass in dem Band moderne Literaturwissenschaftler das Sagen haben, merkt man bereits am Titel "Von Resten, Residuen und Relikten", der zweifellos durch poetische Alliteration zu gefallen weiß. Inhaltlich fällt aber auf, dass nirgendwo im Text diese drei Begriffe wissenschaftlich tragfähig in ihren Unterschieden und Gemeinsamkeiten erläutert werden. Wenn die Herausgeberinnen also nur zeigen wollten, dass das Gleiche mit verschiedenen Worten auszudrücken ist, dann hätten sie sich wenigstens der Frage nach Sinn und Unsinn von Synonymen in der heutigen Wissenschaft stellen müssen.
Bei dieser Ausgangsposition kann es nicht verwundern, dass der Sammelband allzu stark den Akzent auf ein metaphorisch-fiktionales Verständnis von Resten legt. Der Rest in seiner materiellen Beschaffenheit, wie auch seine Prägung durch Realgeschichte oder Bildwissenschaft, bleibt hingegen blass. Was der Sammelband hingegen bietet, ist eine philologische Leistungsschau. So manche Argumentation - meist dreht sie sich um die Analogisierung von materiellem und poetischem Rest - wirkt bemüht, bisweilen angestrengt. Nicht wenige Beiträger scheinen im Sog großer Geister dem Jargon der Unverständlichkeit zu frönen.
Der Verfasser der Rezension kann im Folgenden nur diejenigen Beiträge zur Sprache bringen, die ihm als Nicht-Literaturwissenschaftler zugänglich gewesen sind. In einem Aufsatz wird immerhin ein Medienwechsel gewagt. Helga Lutz und Dietmar Schmidt machen am Beispiel filmischer Bilder aus Blood Simple (1984) die Poesie des Restes zum Thema. Im Film - so die These - wird das filmische Bild aus fremdmedialen Resten konstituiert, wobei Fotografien als fixierte Sichtbarkeiten die Funktion haben, das im Film Nichtgezeigte sichtbar zu machen. Im Zentrum von Dorothee Kimmichs Beitrag steht Siegfried Kracauers Denkbild "Abschied von der Lindenpassage", ein signifikanter Text der Moderne, der seinen Drive aus dem Umgang mit Resten, aus "schäbigen Dingen" schöpft. Dem von Edward Tylor, dem Begründer der Ethnologie, geprägten Begriff "survival" geht Annette Werberger am Beispiel der ethnographischen Expedition des jüdisch-russischen Schriftstellers Semen An-skij auf den Grund. Manche Beiträge sind zwar gelungen, lassen aber nur schemenhaft einen Bezug zum Rahmenthema der Reste erkennen. Die von Michael C. Frank thematisierten flächenhaften Tätowierungen von Südseebewohnern spiegeln eher eine Totalität in der Körperwahrnehmung als einen Rest. Volker Mergenthaler beschäftigt sich mit leiblichen Überresten in Hallstätter Gräbern im Einflussfeld von archäologischer Wissenschaft und katholischer Volksfrömmigkeit - unbestritten ein Thema, das passt und neugierig macht. Die Spannung verpufft aber weitgehend, wenn der Leser bei der Lektüre zur Kenntnis nehmen muss, dass die eigentliche Absicht des Autors darin besteht, die poetische Valenz eines dreiseitigen Beitrags eines österreichischen Autors für das Reisemagazin "Merian" auszuloten.
Trotz so mancher lesenswerter Beiträge bleibt der Eindruck, dass hier das Thema der Reste aus der Rest-Perspektive nur einer Disziplin in den Fokus geraten ist. Die Verpackung des Bandes - er ist erschienen in der Reihe "Frankfurter Kulturwissenschaftliche Beiträge" - hält nicht das, was er verspricht. Kulturwissenschaft ist mehr als eine kulturwissenschaftlich orientierte Einzeldisziplin. Reste schreien geradezu danach, auch bild- und dingwissenschaftlich behandelt zu werden - ein Zugang, dem sich der Band nicht stellen will. Mit diesem Tagungsband, der sich an die große Tradition der Romantiker anlehnt, für die das Fragment das Medium für das Eigentliche darstellte, ist zweifellos ein Anfang gemacht, was umso mehr zu begrüßen ist, weil in der Philosophie Konzepte des Restes und des Marginalen noch weitgehend ungedacht geblieben sind, wenn man vielleicht von Derridas Supplementstheorie absieht. Ein fruchtbarer kulturwissenschaftlicher Dialog wird aber erst dann entstehen können, wenn die Literaturwissenschaft bereit ist, ihre Problemstellung und ihr Vokabular auch für Fachfremde kompatibel zu machen. In der Einleitung heißt es, im Buch ginge es um die Frage nach dem, was übrig bleibt und deren Potenzial für das "Selbstverständnis sowie die Selbstreflexion einer kulturwissenschaftlich erweiterten Literaturwissenschaft". Statt Selbstbespiegelung wäre transdisziplinäre Reflexion und Integration gefragt gewesen, um dem Leser mehr als eine partikulare Perspektive zu bieten.
Stefan Laube