Rezension über:

Armelle Lefebvre (éd.): Comparaisons, raisons, raisons d'État. Les Politiques de la république des lettres au tournant du XVIIe siècle (= Ateliers des Deutschen Historischen Instituts Paris; Bd. 6), München: Oldenbourg 2010, 211 S., ISBN 978-3-486-59769-1, EUR 24,80
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Herbert Jaumann
Universität Greifswald
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Schnettger
Empfohlene Zitierweise:
Herbert Jaumann: Rezension von: Armelle Lefebvre (éd.): Comparaisons, raisons, raisons d'État. Les Politiques de la république des lettres au tournant du XVIIe siècle, München: Oldenbourg 2010, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 11 [15.11.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/11/18735.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Armelle Lefebvre (éd.): Comparaisons, raisons, raisons d'État

Textgröße: A A A

Der Sammelband enthält acht Abhandlungen, die als Vorträge im Rahmen einer Arbeitstagung des Deutschen Historischen Instituts Paris gehalten wurden. Die im Obertitel gespiegelte Gliederung des Bandes in drei thematische Schwerpunkte verweist auf die Perspektive, unter der man die behandelten Texte und Autoren untersucht hat, und dabei zugleich auf die These von einer zeitlichen Abfolge: Bestimmend für das Verfahren, den interpretatorischen Zugriff usw. der gelehrten Schriften zur Politischen Theorie und Historiographie im frühneuzeitlichen Frankreich über den Staat, die Monarchie, deren Kritik und anderes sei im 16. Jahrhundert und davor der Vergleich (zwischen Völkern bzw. Nationen, Kulturen, Religionen, Epochen / Zeitaltern, Alt und Neu usw.). Dieser sei gegen eine zeitenthobene Geltung, also gegen Universalismus, gerichtet und laufe auf die Tendenz zu einem gewissen Relativismus hinaus (wie man vorsichtig formulieren sollte, um nicht allzu anachronistisch zu reden), wenn er nicht gar darauf abziele. Diese historische Komparatistik verschiebe allmählich ihren Fokus in Richtung auf einen Pluralismus der raisons, also die Herausarbeitung kultur- und zeittypischer Begründungen für eine jeweilige Regierungsform und anderer politischer wie kultureller Institutionen und Normen, und diene so deren Rationalisierung, die sich in einer dritten 'Stufe' im 17. Jahrhundert bis in die ersten Jahrzehnte des Dreißigjährigen Krieges und danach in den Lehren der Staatsräson und ihrem Verhältnis zur Monarchie einerseits und zum Absolutismus andererseits konzentriert habe.

Die Akteure bzw. Autoren all dieser historiographischen und theoretischen Urteilsbildungen und Positionierungen sind Gelehrte und als solche Mitglieder der Gelehrtenrepublik, République des lettres, der Frühen Neuzeit, deren Anfänge auf den frühen Humanismus, Petrarca und andere, zurückgehen. Nach einer glücklichen Formulierung der Herausgeberin Armelle Lefebvre stehen diese Gelehrten auch ihrem Selbstverständnis nach sowohl im Dienst der République wie dem der lettres (Préface, 7, und öfter). Fragt man, inwieweit die Spezifik des Gelehrten und seiner humanistischen, also immer auch (positiv wie kritisch) an Italien orientierten Provenienz in diesem Band zum Thema gemacht wird, so ist dieser Hinweis auf die Rollenvielfalt ein häufig begegnender Befund, neben dem anderen: der Exemplifizierung gelehrter Praktiken im Rahmen des politischen Argumentierens der gelehrten Autoren, also eigentlich nicht von Praktiken des (sozialen) Verhaltens als Gelehrte, in bestimmten Institutionen usw. Diese Praktiken jedenfalls sind offenbar mit den Politiques im Untertitel des Bandes gemeint (also auch Orientierungen, Strategien, Absichten).

Unter den drei Beiträgen zum ersten Teil widmet sich den letzteren vor allem Thomas Nicklas (zu Pasquier, Hotman, Louis Le Roy), während Lothar Schilling (über typische Argumentationsformen im juristisch-politischen Diskurs der comparaisons um 1500 und im 16. Jahrhundert) und Albert Cremer (über das Osmanische Reich als Staatsmodell, zu Postel, Bodin, Sansovino, Chappuys, Botero und anderen, mit wertvollen Quellenerschließungen) auf diese Politiques des érudits als solche, also auf die eigentliche Präzisierung der Fragestellung des Bandes, kaum Bezug nehmen.

Im zweiten Teil handelt die Herausgeberin ausführlich über Staatsmodelle bei Jacques-Auguste de Thou, und der in Grenoble lehrende Giuliano Ferretti zeichnet ein detailliertes und lebendiges Bild vom berühmten Kabinett der Brüder Dupuy und dessen Kontexten unter dem Aspekt der dort entwickelten Strategien einer Opposition. Das cabinet Dupuy wird als Modell für die französische Gelehrtenrepublik, auf den Linien der Interpretationen von Marc Fumaroli, vorgestellt. Auf eine wirklich konkrete, vor allem ausführlich auf Text- und Schreibstrategien eingehende Weise macht die 'gelehrten Praktiken' aber nur Dinah Ribard in ihrem Beitrag über den der libertinage érudit (wie auch namentlich Isaac La Peyrère) nahestehenden Michel de Marolles zum Thema, zumal über dessen Mémoires von 1656 (Neuausgabe mit Erläuterungen und Zusätzen Amsterdam 1755 in 3 Bänden).

Von den beiden Aufsätzen des dritten Teils hat Jean-Pierre Cavaillé eine ehemals prominente, heute sicher zu wenig bekannte Affäre aus der Gelehrtenrepublik um 1600 zum Thema einer Fallstudie gewählt: die Verwicklung Gabriel Naudés in den Streit um die Autorschaft von De imitatione Christi. Ehe man sich (dauerhaft erst im 20. Jahrhundert) auf Thomas Hemerken von Kempen als Verfasser geeinigt hatte, gab es um diese Frage seit dem 16. Jahrhundert ein Tauziehen zwischen verschiedenen Parteien in den katholischen Orden bzw., wenn man davon sprechen kann, in der katholischen Hemisphäre der Gelehrtenrepublik, hier zwischen Kandidaten in Italien (Gersenius), Frankreich (Gerson) und den Niederlanden bzw. dem Niederrhein. Wenn man den Band manchmal auch wegen des sehr mühsam zu lesenden Französisch weglegen möchte, so bleibt zumindest dieser Beitrag Cavaillés, der sich ein lange vergessenes Thema neu vornimmt und ihm auch neue Aspekte abgewinnt, das eigentliche Fundstück, das gelehrtengeschichtliche Juwel dieses durchaus sehr materialreichen und sorgfältig argumentierenden Bandes.

Dessen Hauptschwäche besteht in der unzureichenden Behandlung der Aspekte, die der Untertitel verspricht. Von den spezifisch gelehrten Praktiken der staatstheoretischen und anderen Auseinandersetzungen ist nur sporadisch, eingehend nur in den wertvollen Beiträgen von Nicklas, Ferretti, Ribard und Cavaillé, die Rede, von den zahlreichen institutionellen Aspekten der Gelehrten und ihrer Kommunikation, also der République des lettres im Wortsinn, erfährt man im jeweils konkreten Fall fast nichts. Die Unterbelichtung dieser Dimension zeigt sich auch darin, dass überhaupt nur auf einen schmalen Ausschnitt der betreffenden Forschung Bezug genommen wird und deren Ergebnisse eigentlich in keinem Fall aufgegriffen, appliziert oder gar weitergedacht werden. Von den französischen Beiträgen werden wichtige neuere Publikationen nicht einmal genannt [1], Forschungsbeiträge aus Deutschland [2] fehlen nahezu ganz. Haben die Humanisten einst die mangelnde Berücksichtigung des Griechischen beklagt (Graeca non leguntur), so muss man heute bei Publikationen wie der vorliegenden leider immer wieder feststellen: Germanica non leguntur.


Anmerkungen:

[1] Vor allem Marc Fumaroli (éd.): Les premiers siècles de la République européenne des Lettres. Paris 2005.

[2] Ulrich Johannes Schneider (Hg.): Kultur der Kommunikation. Die europäische Gelehrtenrepublik im Zeitalter von Leibniz und Lessing. Wiesbaden 2005, und Herbert Jaumann (Hg.): Die europäische Gelehrtenrepublik im Zeitalter des Konfessionalismus. Wiesbaden 2001. Bedauerlicher ist, dass auch an Literatur vorübergegangen wird, die für die Fragestellung des Bandes ganz einschlägig gewesen wäre, wie zum Beispiel die vorzügliche Monographie von Marian Füssel: Gelehrtenkultur als symbolische Praxis. Darmstadt 2006; dazu die Rezension des Verfassers in: Das achtzehnte Jahrhundert 32 (2008), H. 2, 273-287. Bei Füssel geht es ausdrücklich und durchgehend um die Analyse 'gelehrter Praktiken', allerdings vornehmlich in der Universität der Frühen Neuzeit.

Herbert Jaumann