Martin Fröhlich: Mysterium Venedig. Die Markusrepublik als politisches Argument in der Neuzeit (= Freiburger Studien zur Frühen Neuzeit; Bd. 13), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2010, 318 S., ISBN 978-3-0343-0034-6, EUR 54,50
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Joel Mokyr: A Culture of Growth. The Origins of the Modern Economy, Princeton / Oxford: Princeton University Press 2017
Seit jeher erfreut sich die Geschichte Venedigs mit all ihren Aspekten eines außerordentlichen Interesses, nicht nur wegen des die Serenissima umgebenden Mythos, sondern auch wegen des ihr zugeschriebenen Modellcharakters für die Republiken der Frühen Neuzeit. Das spiegelt sich in der kaum überschaubaren Anzahl von Publikationen wieder, die auch in der jüngeren Vergangenheit die Markusrepublik unter verschiedensten Fragestellungen in den Blick nahmen.
Ziel der im Jahr 2008 an der Universität Fribourg eingereichten Dissertation Martin Fröhlichs ist es, die Rezeption des Mythos Venedig als politisches Argument in ausgewählten Werken der politischen Theorie- und Ideengeschichte vom 16. bis zum 18. Jahrhundert und insbesondere die Brüche in den jeweiligen Argumentationsmustern herauszuarbeiten. In den Vordergrund rückt der Autor dabei die Schriften Niccolò Machiavellis, James Harringtons, Amelot de la Houssayes und Montesquieus. Zwar lägen zur Frage nach der Bedeutung Venedigs für die Argumentationsmuster einzelner Autoren bereits zahlreiche Studien vor. Neu sei jedoch die vergleichende Untersuchung verschiedener staatstheoretischer Schriften, wobei dezidiert die "Widersprüchlichkeiten" und gegensätzlichen Verwendungen des Arguments Venedig innerhalb der einzelnen Werke in den Vordergrund rücken sollen. Denn diese seien in der bisherigen Forschung nicht ausreichend hinterfragt worden. Die Konzentration auf diese Widersprüche bei der argumentativen Nutzung der Republik als Pro- oder Contra Argument innerhalb der Werke einzelner Autoren soll "zu einer differenzierten Betrachtungsweise" der Rezeption des politischen und gesellschaftlichen Systems der Republik führen und so ermöglichen, "die besagten Brüche im virtuellen Bild Venedigs [...] zu einem neuen Gesamtbild zusammen[zu]fügen" (17): Wann und vor allem warum wählt ein Autor ein und dasselbe Beispiel aus dem politischen und gesellschaftlichen System Venedigs, um es an einer Stelle als vorbildlich, an einer anderen Stelle innerhalb desselben Werkes dann aber geradezu invers einzusetzen? Die Antwort auf diese Frage verdeutlicht - und hier liegt die Leistung der vorliegenden Arbeit -, wie vielseitig und zugleich wie wenig greifbar die Markusrepublik auch für ihre Zeitgenossen gewesen sein muss.
Nach einer knapp ausgefallenen Nennung des Forschungsstandes (19-22) ("Der Analyse der politischen Theorien einzelner Denker ist eine breite Masse von Schriften gewidmet, so dass eine gründliche Erfassung ein Ding der Unmöglichkeit ist" [20]) widmet sich der Autor zunächst dem Begriff und der Entstehung von Mythen und Gegenmythen. Im Vordergrund steht dabei stets die Rezeption des Modells Venedig von der Renaissance bis zur Aufklärung. Unabhängig voneinander können Mythos und Gegenmythos ein "derartiges Eigenleben [entwickeln], dass sie losgelöst von der Realität ein virtuelles Bild generieren" (32). Als einige der klassischen, zwischen dem 16. und dem 17. Jahrhundert immer wieder auftretenden Beispiele tauchen dabei im Laufe der Arbeit etwa die argumentativ verschieden einsetzbare Mischverfassung oder die Frage, ob es sich bei Venedig nun um eine Handels- oder angesichts des Festlandbesitzes doch um eine Agrarrepublik handele, auf.
Als "Fundament" (18) der angestrebten Analyse dient die vorangestellte Wiedergabe der Theorien Niccolò Machiavellis (Kapitel B), die immerhin 45 Seiten umfasst und somit der zum eigentlichen Hauptteil gehörenden Betrachtung des Werks Montesquieus vom Umfang her kaum nachsteht, obwohl Fröhlich zu den Theorien Machiavellis kaum Neues zu sagen hat. Da sich aber bei allen in der Arbeit analysierten Schriften Bezüge zu den Gedanken des Florentiners finden, hilft der alles in allem gelungene Abschnitt dem Leser dabei, den roten Faden der Diskussion von Machiavelli bis Montesquieu zu erkennen.
Den eigentlichen Hauptteil der Arbeit machen die jeweils für sich stehenden Untersuchungen der Werke verschiedener Staatstheoretiker des 17. und 18. Jahrhunderts aus. Jedes Kapitel beginnt mit einer biografischen Einbettung der einzelnen Autoren in den Entstehungskontext des jeweiligen Werkes. Sodann werden ihre Vorbilder vorgestellt. Bei der Analyse der Argumentationsstränge geht Fröhlich systematisch vor. Den Beginn macht James Harringtons "The Commonwealth of Oceana" (Kapitel C), welches allgemein als Höhepunkt der positiven, oftmals verklärten Rezeption Venedigs gilt. Dabei tritt der Einfluss Machiavellis zu Tage. Anders als der Titel des Buches vielleicht erwarten lässt, konzentriert sich die Untersuchung nicht in erster Linie auf die Diskussion derjenigen Argumentationsstränge, bei denen die Republik Venedig als positives oder negatives Beispiel für oder gegen die jeweilige Staatstheorie angeführt wird, sondern strebt ein Gesamtbild der Theorien Harringtons und Montesquieus an.
Eben hier liegt auch die einzige größere Schwäche der Arbeit. Dieses an sich löbliche Vorhaben geht nämlich auf Kosten der Übersichtlichkeit und Lesbarkeit hinsichtlich des zentralen Arguments. Denn die Markusrepublik ist eben - auch wenn sie an prominenten Stellen immer wieder als Vorbild heraussticht - nur eines von vielen politischen Argumenten, die Fröhlich herausarbeitet. Erst an den Stellen, an denen die Gegensätzlichkeit einzelner Argumente zu Tage tritt, wird das Ziel des Autors wieder deutlich. So etwa bei der Frage, ob es sich nun um eine Agrar- oder eine Handelsrepublik handelt und wo der jeweilige Vorteil für die unterschiedliche Verwendung des Beispiels Venedigs liegt (156). Dort macht der Autor dann auch deutlich, dass immer wieder dieselben Argumente genutzt werden, die aber gleichwohl innerhalb desselben Werkes als Belege für gänzlich unterschiedliche Schlussfolgerungen dienen können. So wird augenscheinlich, wie vielseitig das Argument Venedig tatsächlich ist. Der Vorteil der Republik für die Argumentationslinien Harringtons liegt eben in der im 17. Jahrhundert geradezu "mythischen Verklärung" Venedigs, "in welcher unscharf auftauchende Gestalten [und Merkmale der Republik] jede nur erdenkliche Form anzunehmen vermögen" (186). Dank ihres "vielseitig definierbaren politischen Systems ist die Lagunenstadt der perfekte Anker, um seinem [Harringtons] theoretischen Gebäude 'Commonwealth of Oceana' sicheren Halt zu bieten" (188).
Kapitel D widmet sich schließlich dem allgemein anerkannten Tiefpunkt der Venedigrezeption im Zeitalter der Aufklärung. Das Paradebeispiel dafür ist das Werk Montesquieus. Zunächst behandelt Fröhlich aber ausführlich die Schriften Amelot de Houssayes, auf den sich der Franzose bezüglich Venedigs in seinem "De l'esprit des lois" offen beruft (195). Wie bereits zuvor geht der Autor auch hier systematisch vor und stellt die einzelnen Aspekte der Theorien Houssayes und, ausführlicher, Montesquieus (Menschenbild, Freiheitsbegriff, Gesetzgeber und die einzelnen Regierungsformen) en detail vor. Dabei wird noch einmal deutlich, wie sehr sich das durch Harrington noch völlig überhöhte Bild Venedigs zu einem negativen geändert hat. Beispielhaft sei die Rezeption des gefürchteten "Rates der Zehn" genannt (266). Wie in der Einleitung angemerkt, ist dieser Abstieg der Republik in der Rezeption durch die Aufklärung keine neue Erkenntnis. Interessant ist dagegen, dass, wie Fröhlich zeigen kann, auch Montesquieu trotz seiner beißenden Kritik an ihren "tyrannischen Institutionen" (298) und an der "selbstsüchtigen" und für ihn den "moralischen Verfall" verkörpernden Nobilität (272) Venedig nur wenige Kapitel davor durchaus als positiv und vorbildlich zu beurteilen weiß. Angesichts der sonst gegenüber der Markusrepublik deutlich ausgedrückten Ablehnung bleibt auch der Franzose seiner Argumentation nicht treu. Für das Modell der aristokratischen Republik kann Venedig nämlich etwa hinsichtlich der Beziehung zwischen den herrschenden Familien und den Untertanen als vorbildhaft gelten (263). An mehreren Beispielen wird deutlich, dass Montesquieu bezüglich der Markusrepublik "auf mehreren Bedeutungsebenen" agiert. "Die Modellhaftigkeit Venedigs soll offensichtlich solange gewahrt bleiben, wie es in das Theoriegebäude hineinpasst" (268). Auch die Aufklärer des 18. Jahrhunderts haben folglich - so das Urteil Fröhlichs - die Vielschichtigkeit Venedigs erkannt und für ihre Zwecke entsprechend (um-)gedeutet.
Das übersichtlich untergliederte Inhaltsverzeichnis erleichtert die schnelle Orientierung innerhalb des Werkes und kann somit das Fehlen eines Registers, das insbesondere die Suche nach Schlagwörtern und Parallelen innerhalb der betrachteten Schriften erleichtert hätte, einigermaßen ausgleichen.
Obwohl angesichts der detaillierten Ausführungen zu den einzelnen Theorien manchmal der rote Faden bei der Lektüre verloren zu gehen scheint, ja die im Titel versprochene Markusrepublik zwischen Machiavelli, Hobbes und den anderen Vorbildern bisweilen geradezu im Hintergrund zu verschwinden droht, zeigt das vorliegende Werk, dass Höhepunkt und Niedergang des Mythos Venedig in der Neuzeit offenbar nicht mit einer Schwarz-Weiß-Folie aus gut und schlecht erfasst werden können, und bereichert die Forschung durch seinen vergleichenden und auf Widersprüche eingehenden Ansatz.
Sebastian Becker