Udo Grashoff: Schwarzwohnen. Die Unterwanderung der staatlichen Wohnraumlenkung in der DDR (= Berichte und Studien; Nr. 59), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011, 200 S., 43 Abb., ISBN 978-3-89971-826-3, EUR 19,90
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In den westeuropäischen Ländern entwickelte sich infolge der 68er Bewegung eine Hausbesetzer-Szene als politische Protestbewegung gegen die jeweiligen politischen Systeme. Udo Grashoff untersucht solche Entwicklungen in der DDR. Auch dort zogen Menschen "schwarz", also ohne Zuweisung, in Wohnungen ein. Die Motive hierfür unterschieden sich aber von denen westeuropäischer Hausbesetzer. In der Bundesrepublik, in Dänemark oder den Niederlanden hatten Hausbesetzungen einen starken politischen Hintergrund. Sie wurden häufig bewusst öffentlich wirksam inszeniert. Es sollten autonome Freiräume zum Wohnen, zum Arbeiten, aber auch zur kulturellen Nutzung geschaffen werden. Diese Motive gab es in der DDR auch, sie spielten aber eine eher untergeordnete Rolle. Angesichts der anhaltenden Wohnungsnot und der Unfähigkeit der staatlichen Wohnungsbehörden die Versprechen von Partei und Regierung einzulösen, stand die private Selbsthilfe an erster Stelle der Gründe, aus denen Menschen ohne offizielle Berechtigung in leer stehende Wohnungen einzogen.
Für die Vergabe von Wohnraum waren in der DDR die Abteilungen für Wohnungspolitik der Räte der Stadtbezirke und Städte zuständig. Denn jede Wohnung durfte nur mit staatlicher Zuweisung bezogen werden. Hierfür galt es, strenge politische, ökonomische und soziale Kriterien zu erfüllen, wodurch eine Wohnungszuweisung immer als staatlicher Gnadenakt anmutete.
Das strikt reglementierte Wohnraumvergabesystem und das von der Partei initiierte Wohnungsbauprogramm, welches in den 1970er Jahren ins Leben gerufen wurde, schufen erst die Voraussetzungen für die Etablierung eines Schwarzwohnermilieus in der DDR. Denn während seit den 1970er Jahren verstärkt Wohnungsneubau betrieben wurde, überließ man ganze historische Altstadtgebiete dem Verfall. Diese sollten systematisch freigezogen werden, um sie entweder abzureißen oder später zu sanieren. So standen mitunter ganze Straßenzüge in den Städten leer und wurden der Nutzung entzogen, weil eine Sanierung und Wiederherrichtung die finanziellen und materiellen Ressourcen des DDR-Bauwesens überstiegen. Es erscheint daher nicht überraschend, dass in den 1970er und 1980er Jahren insbesondere Menschen aus Bevölkerungsgruppen, die keinen Anspruch auf eigenen Wohnraum hatten zur Selbsthilfe griffen. Das betraf vor allem junge, unverheiratete und kinderlose Menschen. Sie strebten besonders nach eigenen, unabhängigen Freiräumen und waren bereit, hierfür auch gewisse Risiken in Kauf zu nehmen. Diese Bevölkerungsgruppe war es, die ohne offizielle Zuweisung in alte, schlecht ausgestattete und oftmals baufällige Wohnungen einzog, um überhaupt eigenen Wohnraum zu erhalten. Neben den Jungen versuchten vor allem die Menschen, die sich über einen längeren Zeitraum vergeblich auf dem offiziellen Weg bemüht hatten, eine eigene Wohnung zu erhalten, ihr Unterkunftsproblem selber zu lösen. Hierbei entwickelten sich unter den Schwarzwohnern in der DDR vielversprechende Strategien, um an das begehrte Gut - die eigene Wohnung - zu gelangen.
Da die Mieten in der DDR aufgrund gesetzlich festgelegter Preise sehr niedrig waren, spielte das Motiv der Kosteneinsparung durch nicht gemeldetes Wohnen kaum eine Rolle. Udo Grashoff weist nach, dass viele Schwarzwohner sowohl Miete als auch andere Nebenkosten zahlten. Darüber hinaus waren viele bereit, mitunter aufwendige und kostspielige Reparaturen an den Wohnungen und Häusern durchzuführen, in die sie unerlaubter Weise eingezogen waren.
Die Unterwanderung des staatlichen Wohnraumvergabemonopols - das Schwarzwohnen - wurde als Ordnungswidrigkeit geahndet und sowohl mit Geldbußen als auch mit Räumungsaufforderung bestraft. Während Geldbußen als Sanktion die Regel waren, wurden die Wohnungen nicht in jedem Fall rigoros geräumt. Der Umstand, dass es im Sozialismus keine Obdachlosigkeit geben durfte, erschwerte den Wohnraumbehörden den Umgang mit Wohnungsbesetzern. Im Falle einer Räumung hätte Ersatz zur Verfügung gestellt werden müssen, der nicht immer greifbar war. Mangels starker juristischer Druckmittel setzten die Wohnungsämter gezwungenermaßen auf verbale Einschüchterung. Die Schwarzwohner sollten dazu gebracht werden, die Wohnungen von selbst zu verlassen. Gezielte Kontrollen des Wohnungsbestandes waren eher die Ausnahme. Es gab keine gezielte Jagd auf Wohnungsbesetzer. Meist führten eher unglückliche äußere Umstände zum Auffliegen des ungesetzmäßigen Wohnstatus.
Das illegale Beziehen einer leer stehenden Wohnung und die Hoffnung, dabei unentdeckt zu bleiben, waren jedoch oftmals nicht der letzte Schritt der Schwarzwohner in der DDR. Die große Wahrscheinlichkeit, über lange Zeit unentdeckt zu bleiben, die relativ moderaten Strafen für illegales Wohnen, das häufige Fehlen eines Unrechtsbewusstseins bei den Wohnungsbesetzern, aber vor allem auch die nicht unerheblichen Erfolgsaussichten bei Verhandlungen mit den Abteilungen für Wohnungspolitik ermutigten viele, ihren illegal eroberten Wohnraum nachträglich legalisieren zu lassen. Hierfür wird eine Vielzahl von Verhaltensstrategien nachgewiesen, die nicht in jedem Fall, aber verhältnismäßig häufig zur nachträglichen Zuweisung für die bereits bezogene Wohnung führten. Es gab einen großen Verhandlungsspielraum, in dem sich sowohl die sogenannten Wohnraumlenker als auch die Wohnungssuchenden bewegten. In diesem Zusammenhang stellt die Untersuchung von Udo Grashoff einen Baustein für das Konzept von Wolfgang Engler dar, in welchem die DDR-Gesellschaft als Aushandlungsgesellschaft beschrieben wird.
Im zweiten Teil seiner Untersuchung weitet der Autor den Blick von den einzelnen Schwarzwohnern hin zum illegalen Wohnen als Form des kollektiven Zusammenlebens. An zahlreichen Beispielen illustriert der Autor, dass insbesondere in den Großstädten ganze Häusern nach und nach von Gleichgesinnten illegal bezogen wurden. Hier okkupierten die Besetzer Freiräume - ähnlich wie in Westeuropa - für gemeinsame Interessen wie Musik, Kunst, aber auch Religion. Udo Grashoff spricht in diesem Zusammenhang von "eigensinnigen Aneignungen" (83) von Raum, der kreativ und unangepasst genutzt werden konnte und nonkonformes Verhalten ermöglichte. Insbesondere in diesem Kontext rief das Schwarzwohnen wiederum vielfach die Staatsmacht auf den Plan. Hierbei stand jedoch nicht das illegale Wohnen als solches im Fokus. Vielmehr bildeten die eroberten Freiräume in den Augen von MfS und Polizei den Nährboden für oppositionelles und staatsfeindliches Verhalten, was letztlich nicht toleriert wurde.
Udo Grashoff stützt seine Arbeit auf überlieferte Unterlagen der Abteilungen für Wohnungspolitik der Räte der Städte und Stadtbezirke, des MfS, aber vor allem auf eine Vielzahl von Interviews mit Zeitzeugen. Durch die umfangreiche und detaillierte Einarbeitung dieser Quellen wird stellenweise der Eindruck eines Konglomerates von Einzelschicksalen erweckt. Mit dem eindeutig formulierten Anspruch, das Phänomen des Schwarzwohnens in der DDR aus Sicht der Akteure erklären zu wollen, wird dieser Eindruck wiederum relativiert. Wünschenswert wären einige grundsätzlichere Aussagen zur offiziellen Wohnungspolitik gewesen. Insgesamt liefert der Autor jedoch einen gut lesbaren und mit zahlreichen Beispielen illustrierten Einblick in einen bisher unbeachteten Bereich der DDR-Alltags- und Stadtgeschichte mit bewusst gewähltem Blick "von unten".
Kathy Hannemann